Kein normaler Schlaf: Narkosemittel reduzieren elektrische Aktivität des Gehirns
Die Narkose ähnelt nur scheinbar dem natürlichen Schlaf. Tatsächlich wird durch die Narkosemittel die elektrische Aktivität des Gehirns stark reduziert. Reparaturprogramme des Nervensystems müssen dann mühsam diese gestörte Funktion wiederherstellen. Selbst bei jüngeren Patienten sind deshalb noch Tage und Wochen nach einer Narkose Konzentrations- und Gedächtnisstörungen nachweisbar. Es ist also keine gute Idee im Anschluss an eine Operation eine schwierige Prüfung abzulegen.
Während der OP: Narkosetiefe optimieren und Überdosierungen vermeiden
Bei älteren Menschen sind die Auswirkungen besonders gravierend. Darum ist es wichtig, während der Operation die Narkosetiefe anhand der elektrischen Hirnaktivität zu optimieren und Überdosierungen zu vermeiden, meint der Frankfurter Experte Thorsten Steinfeld. Zusätzlich hilfreich ist das Konzept der sanften Anästhesie.
Postoperatives Delir kann chronisch werden – Betroffene werden zum Pflegefall
Ein postoperatives Delir kann chronisch werden. Etwa jeder zehnte Operierte ältere Mensch ist hiervon betroffen. Die Angehörigen beklagen dann typischerweise, dass Vater oder Mutter nach der Operation nicht mehr sie selbst sind. Die können sich nicht mehr eigenständig versorgen und werden zum Pflegefall.
Teilnahmslos und zurückgezogen: Delir zeigt sich oft unspektakulär
Die mit Abstand häufigste Form des Delirs ist unspektakulär. Die Betroffenen wirken teilnahmslos und in sich zurückgezogen.
Im klinischen Alltag sind psychologische Screeningtests notwendig, um diesen Zustand zu identifizieren. Doch genau das sei der springende Punkt, meint Rebecca von Haken.
Reorientierung des Patienten, um dem Delir entgegenzusteuern
Wird das Delir nicht frühzeitig erkannt und gegengesteuert, dann besteht die Gefahr, dass der Zustand dauerhaft wird. Aus einem geistig rüstigen Patienten wird dann ein Pflegefall.
Reorientierung ist ein Konzept, dessen Wirksamkeit inzwischen auch wissenschaftlich belegt wurde. Da Medikamente kaum helfen, ist es der einzige Weg, den verwirrten Patienten wieder in die Realität zurückzubringen. Eine ziemlich aufwendige und teure Therapie.
Jährlich werden in Deutschland etwa eine Million Menschen im Alter von über 80 Jahren operiert. Statistisch gesehen müsste die Diagnose Delir also einige hunderttausend Mal gestellt werden. In den offiziellen Abrechnungsdaten der Kliniken dagegen taucht sie etwa für 2021 nur ganze 14.000- mal auf. Das Delir-Problem wird in der Praxis offenbar systematisch ignoriert. Ein Skandal, den Rebecca von Haken auf den chronischen Personalmangel in den Kliniken zurückführt.
Lange Narkose: Delir tritt häufig im Bereich der Herzchirurgie auf
Besonders eklatant ist das Problem im Bereich der Herzchirurgie. Hier kommt es aufgrund der sehr langen Narkosedauer und des Einsatzes der Herz-LungenMaschine besonders häufig zu postoperativen Verwirrtheitszuständen. Auch bei jüngeren Patienten.
Bei Patient Bernhard begannen die Probleme am Tag nach der OP:
Tabuthema Delir
Niemand hatte Bernhard vorher auf diese mögliche Komplikation hingewiesen. Auch im Nachhinein gab es keine Hilfe. Über eine Woche hielt sein Delir an. Auf ihn hören wollte keiner.
Wie kann es sein, dass ein Patient mehr als eine Woche mit Halluzinationen kämpft, und niemand kümmert sich um ihn? Es ist oft schlicht Unwissenheit, vermutet Vera von Dossow. Die Chefärztin der Anästhesie am Herz- und Diabeteszentrum NRW in Bad Oeynhausen verweist auf eine schier unglaubliche Studie. Das Thema Delir nach einer OP ist in den Kliniken offenbar ein Tabuthema, wie eine deutschlandweite Befragung durch das Herzzentrum Bad Oeynhausen zeigt.
Delir-Prophylaxe durch frühzeitige Mobilisierung und flexible Besuchszeiten
Ein unerkanntes Delir, das chronisch wird, ist nicht nur eine menschliche Tragödie. Es verursacht auch bis zu zehn Mal höhere Kosten in der ambulanten Nachsorge. Die drohende Kostenexplosion durch diese Problematik hat nun die Krankenkassen veranlasst, mit Modellprojekten zu intervenieren. Mit dabei: das Herzzentrum Bad Oeynhausen. Modernste Technik prüft hier unmittelbar nach der Operation, ob Delir-Gefahr besteht.
Delir-Prophylaxe wird in Bad Oeynhausen großgeschrieben. Dazu gehört die frühzeitige Mobilisierung. Flexible Besuchszeiten sorgen für möglichst viele vertraute Gesichter am Krankenbett. Hinzu kommt, dass die Schmerztherapie nach der Operation möglichst optimal sein muss. Regionale Anästhesieverfahren wie etwa die von der Geburt bekannte Peridual-Anästhesie, bei der die Rückenmarksnerven betäubt werden, stehen hier ganz im Vordergrund. Während der Herz-OP werden die Narkosetiefe und der Kreislauf streng überwacht, um alles zu vermeiden, was das Gehirn beinträchtigen könnte. Aber auch so scheinbar banale Dinge wie Schlafbrillen und Ohrstöpsel für eine bessere Nachtruhe gehören zum Programm. Ganz so, wie es die einschlägigen Leitlinien vorsehen, sagt Vera von Dossow, die Chefanästhesistin der Bad Oeynhausener Klinik.
Dieses optimierte Delir-Management hat allerdings einen Haken. Es ist mit erheblichem Personalaufwand verbunden. Noch unterstützen die Krankenkassen die Klinik im Rahmen eines Modellprojektes. Inwieweit das Konzept schließlich bundesweit umgesetzt werden kann, steht in den Sternen.
Dehydration als Auslöser für postoperatives Delir
Ein Beispiel aus berlin. OP-Vorraum im Helios-Klinikum Emil von Behring in Berlin Zehlendorf. Hier stehen die Betten der Patienten, die gerade operiert werden. An diesen Betten fallen ungewöhnliche Farbschilder auf. Die meisten sind grün und haben eine ganz besondere Bedeutung, erklärt Anne Rüggeberg, Fachärztin für Anästhesie an der Berliner Klinik.
Grüne Karten am Bett signalisieren dem Pflegepersonal, dass dieser Patient uneingeschränkt trinken darf. Und das bis unmittelbar vor der OP.
Zwei-Stunden-Regel für das Trinken vor einer OP ist unsinnig
Bisher ist eine Karenzzeit von zwei Stunden für die Flüssigkeitsaufnahme vor der Narkose vorgesehen. Eine Sicherheitsmaßnahme, die verhindern soll, dass bei der Narkoseeinleitung Flüssigkeit in die Lunge gelangt, eine sogenannte Aspiration. Im Klinikbetrieb werden Eingriffe jedoch häufig verschoben, sodass die tatsächliche Nüchternzeit oft deutlich länger ist. Für alte Menschen ein Desaster.
Inzwischen hat sich diese Zwei-Stunden-Regel als unsinnig erwiesen. Klare Flüssigkeit wird im Magen innerhalb von Minuten resorbiert und stellt deshalb keine Gefahr dar.
Mit einer einfachen und kostenlosen Maßnahme hat das Helios-Klinikum in Zehlendorf das Delir-Risiko seiner älteren Patienten deutlich gesenkt. Doch alte Zöpfe abzuschneiden ist auch in der Medizin nicht einfach. Noch hat die Berliner Klinik kaum Nachahmer.