Mit den eigenen Gedanken und Gefühlen im Reinen sein
Eine Person äußert sich klar. Sie ist offenbar von dem überzeugt, was sie preisgibt und steht ungeschminkt ein für sich. Sie kommt als natürlich und glaubwürdig bei anderen an. – Ein Selbstbild, das vor allem Politikerinnen und Politiker anstreben. Auch in der bildenden Kunst und in der Musik taucht der Begriff immer wieder auf: Ein Kunstwerk gilt oft dann als authentisch, wenn es etwas zeigt, "wie es wirklich ist", etwas, in das sich das Publikum hineinversetzen und einfühlen kann. Bei Konzerten können "authentische Momente" entstehen, wenn der Funke von der Bühne überspringt.
"Echt und unverfälscht" sein und auch so auf andere wirken wollen heute viele Menschen. Sie orientieren sich an der Vorstellung, ihr "wahres Ich" auszuleben und zu verwirklichen. Als Idealbild gilt: Im Reinen mit den eigenen Gedanken und Gefühlen sein, Wohlbefinden und Selbstsicherheit spüren und ausstrahlen. Wisssen, was man erreichen möchte und dies auch konsequent verfolgen. Es geht um eine Art von persönlicher Stimmigkeit.
Sich selbst Werte und Ziele zuschreiben und damit identifizieren
Was dazu gehört und dafür nötig ist – mit diesen Fragen befasst sich auch die psychologische Forschung. Oliver Schultheiss von der Friedrich-Albert-Universität Erlangen erklärt, warum die Antworten darauf recht schwer zu fassen sind: Wir merken meist nur den Effekt von dem, was uns innerlich ausmacht. Denn Affekte seien für uns spürbar. Aber was zu diesen geführt hat, müsse uns nicht immer klar sein.
Menschen folgen intuitiven Antrieben und können sich daneben auch bewusst Ziele setzen. Das heißt, sie bewegen sich zwischen ihren sogenannten impliziten unbewussten Bedürfnissen und ihren bewusst verfolgten expliziten Motiven. In den expliziten Motiven vereint eine Person die Werte und Ziele, die sie sich selbst zuschreibt und mit denen sie sich identifiziert.
Die Hälfte der Menschen schätzt sich falsch ein
Zahlreiche Studien haben allerdings gezeigt: Das Implizite und das Explizite klaffen oft weit auseinander. Die Vorstellung von mir selbst und der Gedanke, genau nach dem zu handeln, was mich innerlich beschäftigt, passt sehr oft nicht zu meinem tatsächlichen inneren Bedarf. Es ist nicht kongruent. Oliver Schultheiss stellt sogar fest: Die Hälfte der Menschen schätzen sich falsch ein, wenn sie nur über sich nachdenken und rein kognitiv über sich Auskunft geben.
Aus diesem Widerspruch heraus führt nur der Versuch, sich selbst besser kennenzulernen. Oder, wie die Persönlichkeitspsychologin Nicola Baumann es formuliert: einen guten Zugang zum Selbst auszubauen, zu dem komplexen Gebilde aus Bedürfnissen, Wünschen, Präferenzen, Zielen, Werten.
Wenn sich eine Person allerdings ganz anders einschätzt, als es ihr tatsächlich entspricht, kann die richtige Selbstwahrnehmung schwierig werden. Einschlägige Ratgeber-Literatur empfiehlt deshalb oft, sich streng und listig zu hinterfragen und Wünsche und Ziele auf die Probe zu stellen – mit der Aussicht, sich selbst mit dem Gefühl zu belohnen, näher "bei sich" zu sein.
Big Five: fünf zentrale Eigenschaften einer Persönlichkeit
Beschreibt die Psychologie das Wesen einer Persönlichkeit, richtet sie den Blick auf fünf zentrale Eigenschaften, die sogenannten Big Five:
- Emotionale Stabilität
- Offenheit für neue Erfahrungen
- Verträglichkeit
- Gewissenhaftigkeit
- Extraversion, wozu etwa Kontaktfreudigkeit oder auch ein gewisser Tatendrang gehören.
Es ist eine weit verbreitete Annahme, dass das Zusammenspiel dieser Big Five in der Kindheit eines Menschen festgelegt wird. Doch das "Personality Change Lab" der University of California in Davis stellt in seinen Studien fest: Besonders in der Phase zwischen 18 und 40 Jahren müssen Menschen sich beruflich oder privat bislang unbekannten Herausforderungen und Rollenerwartungen stellen. Ausbildung, Beruf, Partnerschaft, Kinder – all diese neuen Erfahrungen beeinflussen und formen dann das Selbst, fordern neue Aspekte der Persönlichkeit heraus.
Vermutete Erwartungen zu erfüllen erzeugt Angst und Stress
Studien haben zudem bestätigt: Wer versucht, Rollen zu spielen und darin verharrt oder sich dafür verbiegt, nur vermutete Erwartungen zu erfüllen, verstärkt Angst-, Stress- und Unsicherheitsgefühle bei sich selbst. In Experimenten der Harvard University sollten Jungunternehmerinnen und -unternehmer versuchen, in Kurzpräsentationen ihre Ideen an Investoren zu verkaufen. Diejenigen, die dabei "ihr Ding durchzogen" waren am Ende erfolgreicher als diejenigen, die sich daran orientierten, was die Investoren wohl interessieren könnte. Wer zeigt, wer er ist, könne aber auch auf Ablehnung stoßen, betont Oliver Schultheiss.
Wechselwirkung mit dem Umfeld: Authentizität muss anerkannt werden
Hinzu kommt: Authentizität entsteht nicht im stillen Kämmerlein. Ein Team der University of Austin in Texas hat untersucht, wann sich Menschen als besonders authentisch empfinden. Das Ergebnis: Immer dann, wenn sie auch sozialen Zuspruch erhalten. Authentizität "funktioniert" offenbar nur in der Wechselwirkung mit einem Umfeld, das diese auch anerkennt. Seiner griechischen Herkunft nach bedeutet "authentisch" die Echtheit im Sinne des Verbürgten, das "als Original befunden" wird.
Oliver Schultheiss warnt andererseits vor der Gefahr, dass vermeintlich selbst gesteckte Ziele gar nicht zu einer Person und ihrer Persönlichkeit passen. Denn nicht selten verfolgen Menschen familiär auferlegte Pflichten oder streben gesellschaftlich anerkannten Vorbildern nach und geben dies auch vor sich selbst als das Eigene aus. Obwohl es nichts oder wenig mit ihren inneren Motiven zu tun hat.
Authentizität: Suche nach der eigenen Echtheit
Authentisch sein heißt nicht, immer gleich zu sein und zu handeln. Wir entscheiden uns für die eine oder andere Richtung im Leben, kehren vielleicht auch einmal um, biegen neu ab, reifen und entwickeln eine persönliche Autonomie – und verkennen trotzdem so oft unser Innerstes. Authentizität ist eine Suche. – Fieser Grundsatz gilt wahrscheinlich für alle Menschen, die ihre eigene Echtheit anstreben.
SWR 2020