Arktis-Anrainer Russland: 80 Jahre Erfahrung und Know-how fehlen nun
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine, der am 24. Februar 2022 begann, hat dramatische Auswirkungen auf die über Jahrzehnte gewachsene enge Kooperation zwischen Russland und den westlichen Ländern im Arktischen Ozean. Klimaforscher wie Marcel Nicolaus vom Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven sind verunsichert. Durch den Verlust der Kooperation mit Russland verliere man sehr viel Know-how in der Eisfahrt auf der logistischen Seite, aber auch ebenso viel russische Expertise auf der wissenschaftlichen Seite, so Marcel Nicolaus.
Klimawandel: Nordpolarmeer wohl ab den 2040er-Jahren im Sommer eisfrei
Der Angriff auf die Ukraine und die gegenseitigen Sanktionen zwischen Ost und West torpedieren nun massiv das gemeinsame Ziel, den Klimawandel aufzuhalten. Alle Forschungsthemen im Nordpolarmeer seien betroffen, erklärt Volker Rachold vom Deutschen Arktisbüro in Potsdam, das zum Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung gehört. Vor allem die Langzeitreihen unter den Klimadaten könnten nicht fortgeführt werden. Das allerdings wäre wichtig. Denn in der Arktis verläuft der Klimawandel erheblich schneller als im globalen Mittel. Temperaturanstieg und Eisschwund sind rasant. Das Eis schmilzt so schnell, dass das Nordpolarmeer voraussichtlich nicht 2050, wie bisher vermutet, sondern schon ab den 2040er-Jahren im Sommer komplett eisfrei sein wird. Die Gründe dafür zu verstehen, ist eines der dringendsten Klimathemen.
Öl, Gas und Erz: Arktis-Ressourcen wecken Begehrlichkeiten
Und die Arktis ist nicht nur Schauplatz des Klimawandels. Sie ist auch Schatzkammer wertvoller Ressourcen wie Öl, Gas und Erz. Ihre Ausbeutung wird in Zeiten steigender Energiepreise – auch eine Folge des Ukrainekrieges – wirtschaftlich attraktiv. Die Gefahr, dass die Arktis zum Spielball von Großmachtinteressen werden könnte, nehme zu, meint Volker Rachold vom Deutschen Arktisbüro in Potsdam, das zum Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung (AWI) gehört. Und er sagt weiter:
Spitzbergen-Kreuzfahrt mit Wissenschaftlern: neue Wege in der Klimaforschung
Die Forschungen zum Eis sind meist satellitengestützt. Es gibt keine Landflächen für Feldbeobachtungen, nur Pack- und Treibeis. Satelliten jedoch würden zur Messung von Eisdicke und -konsistenz wenig taugen, konstatiert Meereisphysiker Marcel Nicolaus, dazu brauche es stattdessen die Messung direkt auf dem Eis. Doch Forschungsreisen sind teuer. Wie also kommen die Wissenschaftler zum Eis?
Vom Hafen Longyearbyen ist die "Commandant Charcot" zu einer außergewöhnlichen Expeditionsreise Richtung Nordpol aufgebrochen. Der französische Neubau ist das erste Eisbrecher-Kreuzfahrtschiff westlicher Fabrikation – eine 150 Meter lange Motoryacht, schlank und mit massivem Bug. Das hochmoderne, mit Flüssigerdgas angetriebene Schiff hat 126 zahlende Touristen, aber auch eine Gruppe internationaler Wissenschaftler an Bord. Eingeladen wurden sie von der Reederei Ponant, um während der 14-tägigen Reise Klimaforschung zu betreiben. Die Kombination aus Tourismus und Forschung sei der klimafreundliche Königsweg und das eine finanziere das andere, so Hugues Decamus, Chefingenieur der Reederei.
Französisches Touristenschiff ist mit Laboren ausgestattet
Die "Commandant Charcot" verfügt über zwei Laboratorien und ein besonderes Gerät, das "Sea Ice Monitoring System", kurz SIMS genannt. Damit messen die Wissenschaftler die Eisdicke. Das Gerät enthält zwei Spulen, die ein elektromagnetisches Feld erzeugen. Da Meereis weniger Salz enthält als das Salzwasser darunter, reagiert die Induktion des Feldes darauf unterschiedlich. So lasse sich die Dicke des Meereises vor Ort messen, erklärt Meereisphysiker Marcel Nicolaus.
Das Nass- und das Trockenlabor sind jeweils rund 40 Quadratmeter groß und wurden von der Reederei mit Geräten ausgestattet, die allen Forschern zur Verfügung stehen. Die Labore liegen direkt über der Wasserlinie. Über das Nasslabor können Bojen ins Meer gelassen und Proben entnommen werden.
Forscher-Team hat nur eine Stunde Zeit für Messungen auf der Eisscholle
Zu ihren Messungen können sich die Wissenschaftler mit dem Bordhelikopter auf eine Eisscholle vorausfliegen lassen; nach einer Stunde kommt die "Commandant Charcot" auf ihrem Weg dort vorbei und nimmt die Forschenden wieder auf. In dieser Stunde lässt sich ein bestimmtes Raster über dem Eis per Drohne abfliegen und fotografieren, um die Eisdicke am Rand zwischen Treibeis und Meerwasser zu kartografieren.
Die Arbeit des Wissenschaftsteams mit den Abläufen eines Kreuzfahrtschiffs in Einklang zu bringen, bedeutet einen logistischen Balanceakt. Der Reiseplan muss eingehalten werden, gleichzeitig soll das Schiff für Meerwasserentnahmen, das Absetzen von Bojen und Drohneneinsätze stoppen. Hubschrauberflüge müssen mit der Route abgestimmt werden.
Nach Erreichen des geografischen Nordpols dürfen die Passagiere das Schiff verlassen und das Eis erkunden. Die Mitreisenden können während der Zeit auf dem Schiff teilhaben an dem, was die Klimaforscher tun. Dafür halten diese Vorträge an Bord und demonstrieren ihre Feldarbeit.
Begegnung mit einem russischem Atomeisbrecher
Auf der Reise eine überraschende Begegnung: Die "50 Let Pobedy" ist ebenfalls in diesem Gebiet unterwegs. Das Schiff mit dem Namen "50. Jahrestag des Sieges" ist der größte Atomeisbrecher des russischen Staatsunternehmens Atomflot mit Heimathafen Murmansk. Schon von weitem wirkt der bullige, feuerrote Koloss wie ein Dinosaurier der Polarschifffahrt. Der Kapitän der "Commandant Charcot" fragt über Funk an, ob ein Treffen möglich ist. Und tatsächlich: Zehn Minuten später rauscht der russische Eisbrecher heran und stoppt keine hundert Meter vom Bug entfernt. Dann geht es los – auf beiden Seiten braust Jubel auf. Crew und Passagiere hüpfen auf dem Helideck auf und ab. Auf der "Commandant Charcot" werden französische Fahnen geschwenkt, auch auf der Brücke strahlende Gesichter. Drüben passiert das Gleiche. Die Außendecks sind voll besetzt, blaue Flaggen grüßen. Beide Eisbrecher lassen die Schiffshörner aufheulen. Dann dreht der Atomeisbrecher ab und entfernt sich in flottem Tempo.
SWR 2023