Am Vorabend der Europawahl schwappt der Diskurs über die politische Organisation dieses Kontinents wieder in die Talkshows und auf die Straßen. Was dabei, wie eigentlich vor jeder Wahl, auch wieder diskutiert wird, ist die Hymne – die „Ode an die Freude“ aus Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie. Ist die Melodie für das Jahr 2024 noch zeitgemäß? Darüber hat Hannah Schmidt nachgedacht.
ARD Mediathek 200 Jahre Beethovens Neunte
Am 7. Mai 1824 wurde die Symphonie Nr. 9 mit der Ode an die Freude im vierten Satz uraufgeführt. Wir feiern das Meisterwerk und verneigen uns vor dem Genie Beethoven.
„Freude, schöner Götterfunken“? Da dreht sich mir der Magen um
Auch wenn sie im Juli 1971 als „Lied ohne Worte“ zur offiziellen Europahymne gekürt wurde – der Schlusschor aus Beethovens 9. Sinfonie ist im kollektiven Gedächtnis untrennbar verbunden mit dem Text von Friedrich Schiller.
200. Jahrestag der Uraufführung Neun Fakten über Beethovens Neunte: Überraschungserfolg und Europahymne
Vor 200 Jahren, am 7. Mai 1824, feierte Ludwig van Beethovens Sinfonie Nr. 9 in Wien ihre Uraufführung. Sie ist eines der bekanntesten Werke der Welt – und die Hymne der Europäischen Union.
„Tochter aus Elysium“ denkt der Kopf, während die Melodie zu hören ist, „wir betreten feuertrunken, Himmlische, dein Heiligtum!“. Kein Wunder, denn Beethoven hat die Melodie dem Text perfekt auf den Leib geschrieben.
Heute allerdings wirken dieser Text und die Melodie im europaparlamentarischen Kontext auf mich verlogen – „alle Menschen werden Brüder“ zu hören und gleichzeitig zu wissen, dass vor den Außengrenzen Europas hilfesuchende Menschen in Gefängnisse gesperrt werden, dass Flüchtende verhungern und ertrinken und mehrere EU-Länder diejenigen bestrafen, die ihnen das Leben retten wollen. „Freude, schöner Götterfunken“? Da dreht sich mir der Magen um.
Die Europa-Hymne im Arrangement von Herbert von Karajan
Braucht Europa eine neue Hymne?
Streng genommen ist die Geschichte der Europahymne eine Geschichte politischer und kultureller Machtdemonstration. Die Entscheidung im Jahr 1971 eine Melodie von Beethoven auf einen Text von Schiller zu wählen, bezeugt die kulturelle Dominanz Deutschlands in Europa, die Dominanz weißer hegemonialer Männlichkeit – und damit verbunden eine offensichtliche Geschichtsvergessenheit.
Dass das Arrangement für die hymnische Verwendung von Herbert von Karajan stammt, einem aktiven Profiteur des NS-Systems, der gleich zwei Mal in die NSDAP eingetreten ist, scheint allen egal gewesen zu sein.
Forum Freude schöner Götterfunken – Was macht Europas Hymne aus?
Gregor Papsch diskutiert mit
Dr. Christine Eichel, Autorin und Beethoven-Biografin, Berlin
Prof. Dr. Albrecht Riethmüller, Musikwissenschaftler, FU Berlin
Prof. Dr. Christine Siegert, Leiterin der Forschungsabteilung am Beethoven-Haus Bonn
Ich frage mich vor diesem Hintergrund: Braucht Europa eine neue Hymne? Was gibt es an einem System zu besingen und zu bejubeln, das seinen eigenen Bürgerinnen und Bürgern zwar größtmögliche Freiheit verspricht – aber auf der praktischen Grundlage von Abschottung und Ausbeutung anderer?
Es braucht einen neuen Appell an die Menschlichkeit
Wenn überhaupt, dann müsste es eine Hymne sein, die uns jedes Mal beim Hören und Singen daran erinnert, dass wir eine Verantwortung dafür haben, dass sich die Vergangenheit nicht wiederholt. Ein Appell an die Menschlichkeit, der nicht in erster Linie unangebrachte „Freude“ über einen wirklich unhaltbaren Zustand ausdrückt, sondern zur Aktion aufruft, Europa gemeinsam für alle zu einem besseren Ort zu machen.
Vor vier Jahren gab es schonmal einen Vorstoß, mit der alternativen „Europahymne der Vielen“, die auf Beethovens Musik einen neuen Text legte – gegen Nationen, für die Öffnung der Grenzen und Kunstfreiheit, auf drei Sprachen. Das war ein schöner Versuch, allerdings klebte auch er an der jahrhundertealten Melodie.
Ich habe einen Gegenvorschlag: Vielleicht könnten ein paar lebende Komponistinnen ein paar ganz neue Hymnen komponieren, von denen immer eine demokratisch gewählt wird – für einen bestimmten Zeitraum. Wie eine Präsidentin. Hauptsache wir singen nicht mehr von „Freude“ und „Brüderlichkeit“.
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