Dem 1997 geborenen französischen Pianisten Alexandre Kantorow ist es gelungen, in wenigen Jahren in die Weltspitze seiner Zunft vorzustoßen. Was natürlich an seiner überragenden Technik liegt, aber auch an seinen klugen Programmen. Wie etwa auf seinem neuesten Album, das Werke von Schubert und Brahms mit Liszt-Transkriptionen koppelt.
Spiel der Gegensätze bei Schubert
Der französische Pianist Alexandre Kantorow hat Schuberts gefürchtete „Wanderer-Fantasie“ eingespielt und trägt das titelgebende Wanderer-Thema mit seinem charakteristischen Rhythmus kraftvoll und kernig vor.
Aber gleich bei der Wiederholung sorgt er für einen extremen Kontrast. Wie eine Fata Morgana klingt jetzt dieselbe Musik: immateriell, schwebend, trügerisch. Kantorow spielt die Gegensätze aus. Dadurch bekommt die Geschichte etwas Geisterhaftes. Und zielt ganz ins Zentrum des zugrunde liegenden Schubert-Liedes vom einsamen Wanderer.
Dieses Lied zitiert dann wörtlich der zweite Satz. Kantorow trägt die Liedstrophe provozierend langsam vor, am Rand zum Verstummen: wie ein Totengedenken. Kurze Hoffnungsschimmer versinken sofort wieder in der Sphäre von Gruft und Grab.
Aufbrausende Elemente bei Liszt
Wie anders klingt es, wenn Franz Liszt dasselbe Lied transkribiert. Auch das ist eine Art von „Wanderer-Fantasie“: Liszt hat sich Schuberts Musik angeeignet und verwandelt sie in seine eigene. Er verdoppelt die Stimmen, fügt dräuende Oktaven hinzu, bis der Tonsatz gefährlich brodelt. Und dann perlen auch noch Läufe. Der Wanderer beginnt zu sprechen.
Für Liszts überbordende und theatralische Klangsprache wählt Alexandre Kantorow einen ganz anderen Klavierklang. Mit der rechten Hand deklamiert er, mit der linken lässt er gewaltig die Elemente aufbrausen. Und legt den schauerromantischen Zug der Bearbeitung frei.
Kontemplation bei Brahms
Im Vergleich mit so viel Bühnenzauber wirkt Johannes Brahms fast wie ein Mönch, wenn er ein Lied variiert. Im Andante seiner Ersten Klaviersonate fantasiert Brahms über das altdeutsche Minnelied „Verstohlen geht der Mond auf“. Kantorow zeigt frappierend, welche Welten zwischen den beiden Romantikern Liszt und Brahms liegen. Denn hier, bei Brahms, zielt er nicht auf Überwältigung, sondern auf Kontemplation.
Nachdenklich sinnt Kantorow dem Thema nach. Dabei unterstreicht er noch den fast schon kargen und ausgesparten Stil, mit dem Brahms seine Linien zieht und die Melodie umspielt. Aber Brahms konnte auch ganz anders …
Mit Wucht, ohne brutal zu sein
Das Scherzo aus der Ersten Klaviersonate ist ein Beispiel für den vollgriffigen und akkordgesättigten Klaviersatz, der für Brahms auch typisch ist.
Alexandre Kantorow spielt dabei aber nie kompakt oder schwerfällig. Bei aller Kraft bleibt der Klang leicht, beweglich und trennscharf, markant und schwerelos, klar bis ins letzte Detail. Immer ist er zum Absprung bereit.
Der Ton ist nicht brutal und hat doch Wucht. Kantorow verleiht dieser Musik Souveränität und Großzügigkeit. Diese CD ist eine Eroberung der Welt auf 88 Tasten.
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Mit Alexandre Kantorow und dem SWR Symphonieorchester. Dirigent: Teodor Currentzis. Livemitschnitt in der Stuttgarter Liederhalle vom 21.1.2022.
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