Ein neuer Band mit Komponisten-Anekdoten versammelt amüsante, aber auch nachdenkliche Geschichten, die oft weit mehr enthüllen: Denn was vordergründig wie eine Kuriosität anmutet, legt mitunter bittere Schicksale, üble Feindseligkeiten und dumme wie dümmliche Akteure unter Intendanten und Theaterbesitzern, Künstlern und Konzert- und Theaterbesuchern frei.
Musikjournalismus im „Rochlitz-Vakuum“
„Kompendium der in den deutschsprachigen Musikzeitschriften 1798 bis 1911 veröffentlichten Anekdoten, mit einer Auswahl an Kuriositäten und zeitgenössisch auffallenden Merkwürdigkeiten. Kritische Ausgabe, II. Band“ – So lautet der zugegebenermaßen etwas lange und spröde Titel dieses Buches von Eva Maria Berke und Helmut Kirchmeyer.
Als unzähligen Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts wurden dabei 294 Anekdoten ausgesucht, wissenschaftlich aufgearbeitet und kritisch kommentiert, wie man bereits im Vorwort des Nachschlagewerks erfährt.
1818 legte der Musikschriftsteller und Komponist Friedrich Rochlitz seine Arbeit als Redakteur der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“ nieder. Erst 15 Jahre später hatte Robert Schumann mit einer ähnlichen Zeitung einen vergleichbaren Erfolg.
Und genau auf diese 15 Jahre des „Rochlitz-Vakuums“ im Musikjournalismus fokussieren Berke und Kirchmeyer in ihrem mittlerweile zweiten Anekdoten-Band. Beethoven schreibt in dieser Zeiten gerade seine Hammerklaviersonate, Schubert das Forellenquintett, Rossini seine Oper „Semiramide“.
Anekdoten bieten Einblick in die allgemeine Musikgeschichte
So spritzig Rossinis Musik auch ist, mit Musikerwitzen, wie man sie heute oft im Fachhandel findet, hat das vorliegende Kompendium wenig zu tun. Die „Anekdoten“ oder „Merkwürdigkeiten“ erlauben vielmehr einen, sprachlich manchmal gewöhnungsbedürftigen, Einblick in die allgemeine Musikgeschichte. Etwa wenn sich die Klassikwelt im Rossini-Taumel befindet und übereifrige Journalisten eilig die Stifte spitzen:
„Paris im November 1823. Der Streit, welcher ehemals hier zwischen den Verteidigern Glucks und Puccinis mit so viel Hitze und Parteigeist betrieben wurde, beginnt jetzt wieder zwischen Mozarts und Rossinis Anhängern“, schreiben Berke und Kirchmeyer. „Alles nimmt jetzt Teil an diesem Kampfe: Die Musiker auf Mozarts Seite und die Dilettanten, Literatoren und die meisten Journalisten auf Rossinis Seite, suchen jeder den großen Haufen für ihre Meinung zu gewinnen.“
Geändert hat sich in der Zeitungswelt seit damals übrigens wenig – denn schon im 19. Jahrhundert müssen die Schreiberlinge der Musikzeitschriften feststellen, dass man die Leserschaft am einfachsten mit Klatsch und Tratsch fängt.
Musikgeschichte als Zeitenspiegel
Dennoch: Wer zwischen den mehr oder weniger amüsanten Zeilen liest erkennt schnell: Musikgeschichte wird hier zum Zeitenspiegel. Die Aufklärung ist bereits in vollem Gange, ebenso das Werden der Nationen. Traditionalisten verteidigen daher vehement den klassischen Stil gegen die neuen Stürmer und Dränger.
Andere führen den grimmigen Beethoven als Parade-Deutschen gegen die Briten ins Feld. Denn Londoner Kritik an seiner Neunten, kann man nicht auf sich sitzen lassen: „Wir müssen gestehen, dass uns dieses Urteil seiner zu scharfen Härte wegen missfällt; auch ist darin, wie in manchem Engländischen, die schneidende Übertreibung nicht zu verkennen“, so Berke und Kirchmeyer.
Weiter heißt es: „Wenn der britische Beurteiler so wenig Geistesfunken darin findet, dass er das Werk dem Rufe eines solchen Mannes für gefährlich annehmen kann: so wird er uns dagegen den Verdacht nicht nehmen können, als habe er die künstliche Zusammenfügung des Ganzen nicht aufzufassen verstanden.“
Für Laien weniger geeignet
Verschiedene Welterklärungsmodelle werden hier unter dem Deckmantel der Musik miteinander verhandelt. Für musikalische Laien ist das vorliegende Kompendium aber wahrscheinlich, trotz der menschlichen und emotionalen Ausbrüche so mancher Journalisten, weniger geeignet.
Auch wenn so manche Anekdote, wie über das Flötenspiel des alten Fritz, einen Requiemstreit, der nach hinten losging, oder eine falsche Umarmung bei mangelndem Kerzenschein durchaus zum Schmunzeln verführen.
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