SWR Kultur Glossist Gordon Kampe erzählt, warum er seine musikalischen Sternstunden manchmal nicht mehr erkennt und wann Stücke nachträglich doch noch zu Sternstunden werden können.
Die vielen Sternstunden eines Komponisten
Wann immer ich aus unruhigen Träumen erwache, meine zahlreichen Glieder eingerenkt habe und alsbald einen ersten Blick aus meinem kleinen Schloss auf die noch im Nebel ruhende Welt wage, denke ich so bei mir: Jucheirassa, tandaradei – heute wird es wieder 24 übervolle Sternstunden geben für mich, also frisch ans Werk!
Während mir meine Angestellten noch etwas weißen Trüffel auf das frische Wachtelei hobeln, bin ich auch schon auf dem Weg in mein Komponierhäusel am Waldesrand, mit Meeresblick und W-Lan.
Kaum eingetreten, küssen mich die ersten Musen – doch bevor ich zurückküssen kann, muss ich Verträge unterschreiben und dann noch ein paar schnieke Sneaker aus argentinischem Wildschweinleder bestellen, denn bald kommen ja die GEMA-Tantiemen. Das wird sicher auch wieder so eine Sternstündchen!
Die vielen Schmerzen eines Komponisten
Ja, okay, ich gebe es zu, bevor Sie es bemerken: Ich habe ein kleines bisschen dick aufgetragen. Vielleicht kann der gerade beschriebene Komponist die wirklichen Sternstunden auch schon gar nicht mehr erkennen, weil er sich selbst für die schärfste Schnuppe der südlichen Milchstraße hält. Zur Zeit sitze ich an einer Partiturreinschrift und nichts scheint ferner von mir zu sein, als eine Sternstunde.
Die Deadline naht und der Kaffeekonsum hat mittlerweile ein eher satirisches Maß angenommen. Wenn ich mich nach drölftausend Stunden beknacktem Geklicke mit der angeblich ergonomischen Maus und dösigem Dauerblick auf den Bildschirm versuche zu bewegen, sehe ich eher Sterne wegen »Rücken« und nicht wegen »Kunst«.
Die vielen Enttäuschungen eines Komponisten
Doch es gibt sie, die Sternstunden: gottlob sind sie rar und kommen nicht, wenn man es darauf anlegt. Da schrieb ich also dieses Stück, es heißt »remember me«, falls Sie ein bisschen dazu tanzen mögen, für eines jener einschlägigen Nerd-Festivals mit dem Plan, eine Sternstunde zu erschaffen! War dann aber keine.
War schön, toll gespielt und kam auch ganz gut an – doch der Star des Abends saugte mein Stück in der zweiten Konzerthälfte mit einem Meisterwerk auf. Über ihm stoppte ein Komet, man brachte ihm Weihrauch, Gold und Myrrhe – mir blieben Brezel und eine Schlachtplatte.
Die vielen Überraschungen eines Komponisten
Ich schrieb ein anderes Stück. Diesmal ohne Auftrag, eher so aus der Hüfte. Wohlwissend, dass zu diesem Konzert kaum Kolleginnen und Kollegen anwesend sein dürften, schrieb ich hemmungslos drauflos – eine Sternstunde würde es hier nun wirklich nicht geben können.
Und doch: Mittlerweile ist mir genau dieses Stück besonders wichtig geworden. Vielleicht ist das Stück sogar ganz okay. Sternstundenschnuppen kommen unvermittelt. Sie sind keine ästhetischen Lenkraketen mit Fernsteuerung, deren Sternstundeneinschlagzeit man genau programmieren könnte.
Endlich hatte ich mal mehr gewagt und weniger gewollt. So eine Einsicht kann eine Sternstunde sein, auch wenn sie nur eine Sekunde lang dauert. Wann, wo, wie und wem aber die Sternstunde schlägt, darüber entscheidet allein die Musik – nicht ich.