Jahresrückblick

Mein musikalisches Highlight des Jahres: Alle Konzerte

Stand
Autor/in
Albrecht Selge

Was war im Jahr 2023 in Bezug auf klassische Musik los? Es war das Jubiläumsjahr von Max Reger und Sergei Rachmaninow, denen zahlreiche Veranstaltungen gewidmet waren. Ebenfalls haben in den letzten Monaten Solidaritäts- und Versöhnungskonzerte viel Beachtung gefunden – sowohl für die Ukraine als auch für Israel. Was aber bleibt davon dauerhaft, was prägte 2023 am meisten? Albrecht Selge hat seine ganz eigene Antwort darauf gefunden.

Mein musikalisches Highlight des Jahres waren: Konzerte. 

Ja, Sie haben richtig gelesen: Konzerte, unbestimmte Mehrzahl. Ich hätte sogar sagen können: alle Konzerte – auch die schlechten oder enttäuschenden.

Denn ich bin einfach froh, dass es nach der Pandemie wieder da ist, unser Konzertleben: stinknormal und aufregend. Fast unwirklich scheint mir die Zeit der gesperrten Säle, der gelichteten Reihen, nur zu 50 % im Schachbrettmuster besetzt, und erst recht der deprimierenden Online-Konzerte.

Konzertsäle wieder gefüllt

Klar, man kann dieses „alles ist wieder wie früher“ für eine Illusion halten. Und ich habe volles Verständnis für jeden, der sich entscheidet, eine Maske zu tragen. Manchmal tue ich es auch.

Aber ich bin froh, dass es jetzt die Entscheidung jedes einzelnen ist, wie er sich schützt. Und dass keine Konzerte mehr per Notverordnung abgesagt werden müssen. 

Und eben auch, dass die Untergangsprophezeiungen fürs klassische Konzertformat übertrieben waren. Wie oft hörten und fürchteten wir, das Publikum würde nach Corona nicht mehr zurückkommen! Aber es ist wieder da, die Konzertsäle sind voll.

Auch konzertante Opern überzeugen

So allgemein wollen Sie mich nicht davonkommen lassen? Ich musste das trotzdem mal loswerden. Aber bitte, dann noch ein konkreter musikalischer Höhepunkt des Jahres für mich: die konzertante Aufführung von Hector Berlioz‘ Oper „Les Troyens“ in der Berliner Philharmonie.

Auch anderswo in Deutschland und Europa führten das tourende französische Orchestre Révolutionnaire et Romantique und der britische Monteverdi Choir dieses Riesenwerk auf.

Auszug aus Berlioz' „Les Troyens“ mit dem hr-Sinfonieorchester in der ARD Mediathek

Sogar der Tatsache, dass der künstlerische Leiter Sir John Eliot Gardiner kurzfristig nicht dabei sein konnte, kann ich etwas Positives abgewinnen: Klar war das künstlerisch und persönlich ein Verlust. Und der Grund fürs Fehlen war ein Schock, nämlich ein gewalttätiger Übergriff von Gardiner gegen einen Sänger.

Etwas Gutes hat aber sogar das: Selbst bei einem weltberühmten Künstler wie Gardiner wird so ein Verhalten nicht mehr akzeptiert oder unter den Teppich gekehrt. 

Monsterwerk als Highlight 2023

Und der junge Dirigent Dinis Sousa, zuvor Gardiners Assistent, machte seine Arbeit richtig gut. Das reine Glück auf Erden aber waren der überirdisch tönende Monteverdi Choir und die sängerische Edelbesetzung mit der alles überstrahlenden Alice Coote als Kassandra: Wie töricht von den Trojanern, dieser Warnerin nicht zu glauben!

Paula Murrihy als Dido: Was für eine Palette an Farben und Emotionen! Und Michael Spyres als Aeneas: ein geschmeidiger Wundertenor, von dem wir noch ganz viel hören werden, vom Barock bis zu Wagner.

Und eben auch: was für ein faszinierendes Monsterwerk, diese überdimensionierten, betörenden Trojaner von Berlioz, die niemals langweilig werden.

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