Ruth Gipps war Pianistin, Oboistin, Dirigentin, Pädagogin und nicht zuletzt auch Komponistin. Die BBC widmet sich aktuell dem Orchesterwerk der englischen Komponistin. Auf dem neu erschienenen dritten Album dirigiert Rumon Gamba gleich drei Ersteinspielungen, darunter Gipps erste Sinfonie.
Ihr Leben lang hat Ruth Gipps ihre eigene Musik immer als typisch „englisch“ bezeichnet. Schon in ihrer ersten Sinfonie bezieht sie sich auf die englische Volksmusik, übernimmt daraus alte modale Skalen und chromatische Elemente, und sie schreibt ungewöhnlich lange Melodien. Immer wieder durchzieht sie den Orchesterpart mit feinen Soli.
Ruth Gipps hat in den späten 1930er-Jahren am Royal College of Music studiert, bei zweien der englischen Komponisten-Schwergewichte Ralph Vaughan Williams und Gordon Jacob. Sie liebte die englische Landschaft und hat ihr viele Werke gewidmet.
Man hört in dieser Ersteinspielung der ersten Sinfonie mit dem BBC Philharmonic das Meer rauschen, sieht die Kreidefelsen dem Wind widerstehen, verliert den Blick am Horizont weiter Weidelandschaften.
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Komponieren trotz künstlerischer Sabotage
Daran, dass diese Sinfonie 1942 unter dem Eindruck des Zweiten Weltkriegs entstanden ist, erinnert die Komponistin immer wieder mit Trommeln, Blechfanfaren und abrupten Brüchen, die die Erzählung trüben. Dirigent Rumon Gamba unterstreicht diese romantischen Feinheiten:
Ruth Gipps entwickelt schon in diesem frühen Werk eine ganz eigene, eine herausragende Klangsprache – aber wie so oft passt den Zeitgenossen nicht, dass hier eine Frau in bis dato rein männlich gehaltene Gefilde vordringt.
Orchestermusiker sabotieren die Aufführung ihrer Werke, Kritiker unterstellen ihr ästhetische Rückständigkeit, und Jurymitglieder sprechen ihr gar ganz die Fähigkeit zu komponieren ab. Nicht ohne Grund übernimmt Gipps deshalb oft die Oboen-, Horn- und Klavierparts selbst oder dirigiert ihre eigenen Kompositionen mit eigens gegründeten Orchestern wie dem London Repertoire Orchestra.
Hochvirtuoses Hornkonzert
So auch ihr Hornkonzert von 1968, das sie ihrem Sohn Lance Baker gewidmet hat. In diesem hochvirtuosen Werk wird klar, welchen Anspruch Ruth Gipps an sich selbst und die Interpretinnen und Interpreten hatte: Die Musik kommt immer an erster Stelle –Spielbarkeit und Technik dienen einzig und allein diesem Zweck.
Auch wenn manche Hornistin womöglich zunächst mal herausfinden muss, wie sie Gipps‘ Töne in Klang umsetzen soll. Solist Martin Owen spielt den Part aber nicht nur souverän, sondern regelrecht poetisch:
Ersteinspielungen einer Pionierin
Ruth Gipps hatte in ihrem Leben mit vielen Herausforderungen zu kämpfen. Sie war eine Pionierin, die offen über Diskriminierung gesprochen hat, die sich in einem männlich dominierten Feld durchgesetzt und entgegen modernerer Entwicklungen auf ihren konservativeren ästhetischen Ideen beharrt hat.
1990 sagte sie, wie die Musikwissenschaftlerin Jill Halstead zitiert: „Ich weiß, dass ich eine richtige Komponistin bin. Aber vielleicht wird das musikalische Establishment das erst nach meinem Tod merken.“ Diese Album-Reihe wird hoffentlich dazu beitragen, dass Gipps‘ wichtige Rolle in der englischen Musik mehr und mehr anerkannt wird.
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Buch-Tipp Helen Buchholtz – Komponieren als Frau im 20. Jahrhundert
Die Musikwissenschaftlerin, Autorin und Redakteurin Noemi Deitz publiziert und forscht zu den Themen Gender in der Musik und Musik in Luxemburg – und hat in ihrer Dissertation jetzt beides vereint: Anhand der Geschichte der luxemburgischen Komponistin Helen Buchholtz erzählt sie exemplarisch die Geschichte vieler Komponistinnen des 20. Jahrhunderts. Hannah Schmidt hat das Buch gelesen.