Donaueschinger Musiktage 1998 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 1998: "John, David"

Stand
Autor/in
Christian Wolff, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke

"John, David" begann als ein Geschenk, das zu John Cages achtzigstem Geburtstag gedacht war. Es sollte aus achtzig Liedern (ohne Worte) bestehen, wobei jedes Lied eine Zahl von Klängen zwischen eins und achtzig haben sollte; das heißt, ein Lied sollte einen Klang haben, ein anderes zwei, ein drittes drei und so weiter bis achtzig. Die Abfolge der Lieder wurde nach dem I-Ching-Modell per Zufall bestimmt, ebenso wurde entschieden, ob zwei Lieder sich überlagerten. Der Zufall entschied auch darüber, ob ein Lied eine oder zwei Zeilen haben sollte (also ein- oder mehrstimmig sein) und ob diese Stimmen monophon, heterophon oder hocketiert zueinander sein oder ob Akkorde wie in einem Choral klingen sollten (das geschah aber bloß einmal, am Anfang). Gruppen von Liedern haben zudem bestimmte Charakteristika: zum Beispiel sind die Lieder mit 1 bis 9 Klängen laut, diejenigen mit 10 bis 19 Klängen verwenden kurze Dauern, Lieder mit 30 bis 39 Klängen sind als Tänze gedacht, solche mit 40 bis 49 Klängen beinhalten eine Snare Drum (das kommt bloß einmal vor), diejenigen mit 50 bis 59 Klängen haben repetitive Figuren, die mit 70 bis 79 Klängen verwenden lange Dauern. Das Lied mit achtzig Klängen wurde nicht spezifiziert. Dreißig Lieder habe ich geschrieben, von denen 16 einander überlagern. Sie machen den ersten Teil des Stückes aus, das durch Zufall (und mit der Entscheidung, dort zu enden, durch bewußte Gestaltung) mit dem Lied der achtzig Klänge endet. Doch dann wurde das Geschenk zu einem Gedenken.

Die zweite Hälfte von "John, David" ist ein – ebenfalls gedenkender – Tribut an David Tudor. Weil Tudor als Interpret so außergewöhnlich war, enthält dieser Teil einen ausgedehnten solistischen Part für die Schlagzeugerin Robyn Schulkowsky (die mich in mancher Hinsicht an David Tudor erinnert). Er besteht aus insgesamt vier Teilen, deren Material jeweils aus Liedern abgeleitet ist, wenngleich die Lieder kaum wiedererkannt werden können (es handelt sich um "Westryn Wind", ein spätmittelalterliches Lied aus England, "Sutton", die Melodie einer amerikanischen Grenzerhymne aus dem späten 18. Jahrhundert, und "Halleluja, I m a Bum", ein Wanderarbeiter-Lied vom Beginn des 20. Jahrhunderts). Das Material aus dem ersten Lied erscheint einstimmig im Orchester, während die Schlagzeugerin unabhängig (aber in einer rhythmischen Struktur, die derjenigen des Orchesters proportional verwandt ist) fortfährt. Es folgen eine kleine Gruppe von Streichersoli und ein Duett für Schlagzeug und Klavier. Dann spielen die Holzbläser und die meisten der Celli vierstimmiges Material aus "Sutton", während die übrigen Streicher perkussive Partien ausführen und das Schlagzeug unabhängig in verschiedenen Tempi weiterspielt. Zugleich entstehen Duette: Schlagzeug mit Bratschen, Trompete und Harfe, Klavier und Pauken, Schlagzeug mit Kontrabaß und zwei Flöten. Als nächstes erscheint eine ausgedehnte Melodie, die durch das Orchester, begleitet von Trommeln, hocketiert wird. Schließlich kehrt Material aus "Sutton" wieder, diesmal in acht Abschnitten für volles Orchester.

Die Verbindung von John Cage und David Tudor ist bekannt. Beide waren in vielfacher Hinsicht meine Lehrer, so wie sie die Lehrer von unzähligen anderen gewesen sind. Ihr erstes gemeinsames Konzert in Europa fand, soweit ich weiß, am 17. Oktober 1954 in Donauschingen statt.

"John, David" ist nur bedingt ein Solokonzert im herkömmlichen Sinne: Für mich war das Stück zu Beginn vor allem ein Problem des konventionellen – hierarchischen, quasi militärischen und oft entfremdeten – Charakters des Orchesters. Das Orchester ist zweifellos in der Lage, wundervolle Klänge hervorzubringen. Die Probleme aber sind kaum über Nacht zu lösen (die Gesellschaft müßte sich ändern). Doch einige Schritte scheinen möglich. Alle Spieler, einschließlich der normalerweise als Masse geführten Streicher, können sowohl als Individuen als auch als Mitglieder einer Gruppe (oder eines Kollektivs?) behandelt werden.

Es gibt Soli, Duette und andere kammermusikalische Konstellationen wie etwa alternierende Gruppen. Es gibt auch Tutti und ebenso die Möglichkeit, daß alle zur selben Zeit schweigen. Es gibt einen Dirigenten: für so viele Leute ist seine Koordination hilfreich und technische, ökonomische Beschränkungen machen – insbesondere in begrenzter Probenzeit – die Effizienz der Führung durch einen Einzelnen notwendig. Aber der Dirigent sieht sich auch Momenten gegenüber, in denen die Partitur ihm keine vollständigen Vorschriften macht: Einsätze können manchmal in verschiedenen Varianten gegeben werden, wobei sich die strukturellen Verhältnisse der Instrumentengruppen verschieben. Bisweilen spielen einzelne Gruppen innerhalb des Orchesters unabhängig in ihren eigenen Tempi, indem sie sich selbst dirigieren oder einem zusätzlichen Dirigenten folgen. Zweifellos haben auch solche "sozialen" Arrangements mit einer bestimmten Art von Klang und Musik zu tun. Wie für einen führenden Solisten ist es auch hier teilweise, aber zugleich grundsätzlich eine Frage des Klangs – es geht um einen gegenüber dem des Orchesters deutlich unterschiedenen (meist nicht mit diesem abgestimmten) Charakter, der eine ausgedehntere (musikalische, spielerische, ernsthafte) Konversation zwischen Einem und Mehreren oder Einem und einem Anderen oder auch mit Vielen (die zusätzlich untereinander kommunizieren können) erlaubt. Eine große Spannbreite zwischen Solo und Tutti ist möglich, und auf verschiedenen Ebenen lassen sich Spektren vom Einzelnen zum Vielfachen entfalten. Mein spezifischer, persönlicher Grund dafür, einen ausgedehnten Solopart einzufügen, wurde bereits zuvor erläutert.

Stand
Autor/in
Christian Wolff, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke