Donaueschinger Musiktage 2001 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2001: "Ovals"

Stand
Autor/in
Alvin Lucier, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke

Vor einigen Jahren erbte meine Frau einen wunderschönen Tisch von ihrer Großtante Marcella. Er hatte einen grazil geschwungenen schmiedeeisernen Fuß und eine gläserne Tischplatte. Seine Form war ein perfektes Oval. Das ganze Jahr hindurch steht er in unserem Garten in Connecticut. Vom späten Frühling bis zum frühen Herbst bewirten und speisen wir oft an diesem Tisch. Im Winter wird er vom Schnee bedeckt, manchmal einen halben Meter hoch. An sonnigen Tagen schmilzt der Schnee ein bisschen und rutscht vom Tisch, wobei er ein eigenes Schnee-Oval formt. Jeden Winter beobachte ich fasziniert diesen natürlichen Kopiervorgang.

Einige Jahre lang habe ich Werke gemacht, in denen Sinus-Oszillatoren langsam auf- und abgleiten und dabei verschiedene Wellenformen bilden: es entstehen Diamanten-, Hängematten- und Farn-förmige Wellen. Musiker halten lange Töne gegen diese 'canti firmi' und erzeugen hörbare Schwebungen, deren Geschwindigkeiten vom jeweiligen Abstand zwischen ihren Tonhöhen und denjenigen der gleitenden Wellen abhängen. Je weiter auseinander, desto schneller die Schwebungen. Im Unisono entstehen keinerlei Schwebungen.

Ich entschied mich, für diese Arbeit die beiden ovalen Formen zu verwenden, die ich jeden Winter in meinem Garten sehe. Zuerst nahm ich die Maße von Marcellas Tisch. Ich zeichnete eine Linie durch die Mitte und maß, in Abständen von je einem Inch, die Höhe und Tiefe. Diese Zahlen schickte ich dem Ingenieur Bob Bielecki, der sie am Computer in akustische Bögen transformierte. Außerdem übertrug ich die Zahlen in musikalische Notation – ein Inch in der Horizontalen entsprach 16 Viertelnoten, ein Inch in der Vertikalen einem Halbton. An der oberen Kante des Ovals, die nahezu gerade ist, sind die Differenzen extrem klein, oft nur Bruchteile eines Halbtons. Dann zeichnete ich eine ähnliche, etwas kleinere Form – ein Inch entsprechend 15 Viertelnoten -, die das Schnee-Oval repräsentierte. Ich legte das Schnee-Oval über das Original, mit einer Zeitverzögerung und einem geringeren Umfang. Dann übertrug ich dieses Oval auf die Stimmen der Streicher des Orchesters: die Violinen übernehmen den höheren Bogen, die Bratschen und Celli den tieferen. Während der Aufführung spielen zwei Gruppen von solistischen Holz- und Blechbläsern und Kontrabässen, eine Gruppe für jedes Oval, Töne gegen die beiden gleitenden Formen.

Um die ständige chromatische Bewegung der gleitenden Wellen zu vermeiden und die schönstmöglichen Akkorde zu formen, habe ich häufig Tonhöhen für die Solisten ausgewählt, die keine erkennbaren Schwebungen erzeugen. Diese Einschränkung stört mich nicht; ich weiß, dass sich jene Schwebungen in manchen verborgenen Bereichen dennoch ereignen.

Stand
Autor/in
Alvin Lucier, aus dem Amerikanischen: Lydia Jeschke