Donaueschinger Musiktage 2004 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2004: "zeit vergeht ... III"

Stand
Autor/in
Markus Steffens

Wer Wolfgang Mitterer je bei einem seiner Konzerte erlebt hat, weiß um die energetische Dichte und musikantische Präsenz seiner Musik. "Con affetto" – so ließen sich viele seiner Kompositionen programmatisch überschreiben. Die Klanginstallation zeit vergeht dagegen ist ein Werk der vordergründig eher leiseren Töne – eine Installation ausgedehnt ruhiger Passagen, die man als eine Art "geronnenes Konzert" für computergesteuerte Kirchenorgel und Elektronik bezeichnen könnte.

Zu Grunde liegt eine gut 50-minütige Komposition, ein durchgängig fixiertes Stück, das Mitterer ursprünglich für die Berliner Sophienkirche entwickelte und hier in der Stadtkirche St. Johann in veränderter Form gleichsam passgenau implantiert hat. Beharrlich einsetzende Orgelklänge unterschiedlicher Länge kontrapunktiert Mitterer mit elektronischen Klängen im Raum, die ein 8-Kanal-Audiosystem in Bewegung setzt. Aus konkretem Material und synthetisch generierten Sounds erwächst ein räumlich disponiertes akustisches Bühnenbild (Mitterer). Naturgeräusche mischen sich mit kurzen Musikpartikeln, ruhig atmende Klangflächen breiten sich aus, metallisch klirrende Klänge und rhythmische Klopf- und Kratzgeräusche kontrastieren düstere Klangnebel.

Die Organisation des Materials beruht auf strengem kompositorischem Kalkül. Orgel- und Computerklänge sind zeitlich und räumlich genau fixiert. Die Orgel läuft als eigene "Spur" in der Komposition. Zwei Tasten (F und C) werden von Bleigewichten gehalten. Über ein spezielles Interface zur Relaissteuerung lassen sich sieben Orgelregister und der Orgelmotor vom Computer aus individuell ansteuern. Die Orgelklänge selbst werden über ein Mikrophon im Orgelwerk auf vier Lautsprecher im Raum projiziert.

Durch diese Automatik steht Mitterer eine ganze Reihe spieltechnischer Mittel zur Verfügung, die charakteristisch sind für seine Orgelkompositionen insgesamt (vgl. etwa seine CD Grand Jeu) und hier behutsam, in quasi destillierter Form und mit nur zwei Tönen (!) zum Einsatz kommen. Dazu gehören Registerverschiebungen, die nicht nur Volumen-, sondern auch Klang- und Klangfarbenmodulationen zulassen und dadurch einen räumlich in die Tiefe gestaffelten Klangeindruck hervorrufen. Das Ein- und Ausschalten des Motors bewirkt neben Klang- und Lautstärke- auch Tonhöhenänderungen, wodurch leicht glissandierende, in der Abwärtsbewegung fast melancholisch anmutende Tonbewegungen entstehen.

Durch die Verstärkung über Lautsprecher lassen sich diese Techniken zudem räumlich abbilden. Gleichzeitig erlaubt die Mikrophonierung Mitterer auch, den Orgelklang selbst durch wechselnde Lautstärkepegel in rotierende Klangbewegung im Raum zu versetzen. Auch räumliche Verschiebungen und simulierte Echowirkungen finden sich.

Die Kombination von Orgel und Elektronik ist eine Konstante im Schaffen von Wolfgang Mitterer. Zu seiner Komposition mixture (für Orgel und Live-Elektronik) bemerkt Mitterer: Die Orgel als Instrument mit vielen Möglichkeiten zur "Klangverschiebung" eignet sich ausgezeichnet als Mittel zur Verschmelzung mit elektronischen Tonspuren. Leicht kann die Grenze zwischen vorgefertigtem und unmittelbar generiertem Material verschwinden.

In "zeit vergeht" steht allerdings nicht allein Klangverschmelzung im Vordergrund. Das elektronische Klangmaterial ist eher als variables Tableau zu denken, auf das sich die Orgelklänge abbilden. Für das Zuspielband verwendet Mitterer Samples von Naturgeräuschen, die mal mehr (Vögel, Wasser/Regen...), mal weniger deutlich (Pferdewiehern...) erkennbar sind, menschliche Stimmen und kurze Partikel Musik (Prozessionsgesänge, Orchesterklänge, Orgelmusik), aber auch rein synthetische Klänge. Andere konkrete Klänge (gestrichene Zither, Kontrabass) sind so bearbeitet, dass sie wie synthetisch generierte wirken. Diese bei Mitterer häufig anzutreffende Ambivalenz der Klänge ist das Resultat eines Arbeitsprozesses, der unmittelbar am Material ansetzt.

Mitterer operiert wenig mit vorprogrammierten Werkzeugen. Wieder und wieder werden Samples verändert, bis sie seinen Vorstellungen entsprechen. Erst durch diese spezifische Klanglichkeit gewinnen Mitterers "Requisiten" das assoziative Potential, um als "akustisches Bühnenbild" wirken zu können. Vergeblich wird man darin nach Eindeutigkeit suchen. Mitterers Klänge sind eher Chiffren eines eigentlich unbegrenzt zu denkenden Materials.

Das kompositorische Problem eines Stückes ohne Anfang und Ende löst Mitterer durch eine Art Verflüssigung des Verlaufs. Beim Hören nimmt man verwischt wirkende Folgen von Sequenzen wahr, die durch die Dominanz bestimmter Klänge oder Bewegungen charakterisiert sind. Das stetige Ein- und Aussetzen der Orgelklänge und ein wiederkehrender, ruhig atmender Puls eines gestrichenen Kontrabasses zentrieren die Komposition. Gelegentlich meint man das Verhältnis von solistischem Instrument und Orchester herauszuhören, doch schnell erweist sich diese Anspielung als bloße Pose, die von der folgenden Entwicklung karikiert wird.

Die Verhältnisse bleiben im Fluss – mal bahnen sich lange Klangentwicklungen der Orgel ihren Weg, mal bilden ihre Klänge den Untergrund einer Klangbewegung im Raum. Das Material macht keine gerichtete Entwicklung durch, sondern fügt sich in immer anderen Konstellationen ständig neu zusammen. Das Verstreichen der Zeit wird so zu einer individuellen Empfindung des Besuchers. Die Zeit vergeht subjektiv unterschiedlich, schreibt Mitterer als Kommentar zu seiner Installation. Die Aufenthaltsdauer im musikalischen Raum spielt keine Rolle.

Stand
Autor/in
Markus Steffens