Donaueschinger Musiktage 2008 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2008: "Schichtwechsel temps et mouvement"

Stand
Autor/in
Franz Martin Olbrisch

Bei den Donaueschinger Musiktagen 1993 erklang zum ersten Mal eine Komposition mit dem Titel "Schichtwechsel". Dieses 63-minütige Werk war Teil meiner radiophonen Installation FM o99.5. Es verwendete mikroskopisch kleine Soundsamples aus der Geschichte der Donaueschinger Musiktage und knüpfte sie zu rhythmisch repetierenden Klangketten aneinander. Jede dieser Klangketten hat ihre eigene Zeit, ihr eigenes Metronom. Die Regelmäßigkeit bzw. Unregelmäßigkeit der Repetitionen und ihrer Tempi generieren neue Zusammenhänge, die in das Innere der Klänge vordringen.

Primzahlenverhältnisse in der Zeitorganisation verhindern, dass die Überlagerung der einzelnen Schichten eine übergeordnete Periodizität erzeugen kann. So entstand eine Abfolge sehr individueller Klangschichten, deren Kombinationen changierende Flächen erzeugen. Die einzelnen Samples verlieren dadurch ihre instrumentale Klanglichkeit. Sie wirken wie akustische Fotografien. Die konzertante Dramaturgie, in der sie einst standen, ist verschwunden, die syntaktischen Beziehungen sind aufgehoben. Die Musik wird statisch, wird zum Raumklang.

Diese Klangketten bilden zu über neunzig Prozent das Ausgangsmaterial der Arbeit "Schichtwechsel temps et mouvement". Auch der Titel Schichtwechsel mit seinen doppeldeutigen Bezügen wurde in das neue Werk übernommen. Damit endet allerdings auch die Gemeinsamkeit zu dem fünfzehn Jahre älteren Werk. Dauer, Präsentationsform und formale Gestaltung gehen vollkommen neue Wege.
Der räumliche Aspekt wird durch den Einsatz von Speziallautsprechern verstärkt, welche – durch ihre akustischen Eigenschaften – die Reflexionen im Raum hervorheben. Dadurch, dass die Reflexionen exakt zu orten und oft deutlicher zu hören sind als die Lautsprecher, scheint der Klang körperlos im Raum zu stehen.

Visuell ist das Environment durch die drei auf dem Fußboden verteilten Projektionsflächen gegliedert. Die vertikalen Projektionen der Videos lassen eine ungewöhnliche Nähe zu den Bildern entstehen. Darüber hinaus werfen die in die Projektionsflächen eingearbeiteten Spiegel nicht nur Teile der Projektion in den Raum, sondern lassen umgekehrt auch Teile des Raumes und des Publikums in den Projektionen erscheinen.

Für die Bildinhalte der Videoprojektionen wurde – wie in der Musik – das Konzept der Fragmentierung und Überlagerung vorgefundener Materialien angewandt. Die einzelnen Bildebenen verschmelzen ineinander und zeigen dabei verschiedene Grade von Konkretheit und Verfremdung. Sie wechseln zwischen Abbild und abstrakter Form. Ihre Komponenten erzählen keine Geschichte, sie wirken eher wie bewegte Fotografien. Sowohl die Bildinhalte als auch die Musik sind eigenständig und lassen durch ihre Vielschichtigkeit unterschiedliche, subjektive Lesarten zu. Die Bezüge, die sich zwischen ihnen ergeben, entstehen durch die individuelle Wahrnehmung des Betrachters und sind von ihm abhängig.

Anders als eine Klanginstallation setzt sich diese Arbeit nicht skulptural in Beziehung zu einem existierenden Ort, sondern definiert ihn medial, setzt ihn erst aus den einzelnen Komponenten zusammen. Bühne und Auditorium, Musik und Video verschmelzen zu einem einheitlichen Raum, zu einem Environment.

Stand
Autor/in
Franz Martin Olbrisch