Nähe und Ferne sind die beiden Pole zwischen denen sich das Programm der Donaueschinger Musiktage in diesem Jahr bewegt. Wie fern ist das Nahe und wie nah ist die Ferne in einer Zeit der Verkürzungen und Verkleinerungen, Schrumpfungen und einer sich immer stärker ausprägenden Übergangslosigkeit?
Es gibt sie, die Konstanten in den Programmen der Donaueschinger Musiktage. Eine zentrale ist das Experimentieren mit unterschiedlichen Raumkonzepten. Von einer "Donaueschinger Raummusik" ist gar die Rede, wenn wir uns Werke wie Pierre Boulez "Poésie pour pouvoir", Karlheinz Stockhausens "Gruppen", "Inori", "Momente" oder "LICHTER-WASSER", Cristóbal Halffters "Sinfonía para tres grupos instrumentales", Luigi Nonos "Io" oder "Quando stanno morendo...", Dieter Schnebels "Sinfonie X", Helmut Lachenmanns "Schwankungen am Rand", Mathias Spahlingers "und als wir", Hanspeter Kyburz "The Voynich Cipher Manuscript", Mark Andrés "Modell" u.v.a. in Erinnerung rufen.
Donaueschinger Raum-Musik
Ferne und Nähe sind gewiss Kategorien des Raumes. Doch es wäre zu kurz gegriffen, die diesjährige thematische Klammer des Festivals allein auf musikalische Raumkonzepte zu reduzieren. Etwa auf solche, die die multivalenten Determinanten des sichtbaren architektonischen oder des Klang-Raumes bzw. die vielfältigen differenzierten Interaktionen des sichtbar architektonischen Raumes mit dem Hörraum fokussieren. Solche Arbeiten werden gewiss auch weiterhin das Programm der Musiktage bestimmen. Sie finden sich auch in diesem Jahr sowohl bei Karlheinz Stockhausens LICHT-BILDER, der szenische Bewegungen der Interpreten im Raum mit Bewegungen in vier Zeitschichten der Licht-Bilder von Johannes Conen konjugiert, als auch in Jörg Herchets Orchesterkomposition sich verräumlichend.
Schrumpfungen des Raumes
Mit "Ferne Nähe" umschließen die Musiktage in diesem Jahr darüber hinaus in umfassenderer Weise all jene Phänomene unserer Technokultur, die von Philosophen wie Marshall McLuhan, Vilém Flusser, Paul Virilio u.a. bereits im ausgehenden 20. Jahrhundert detailliert und mit Weitsicht beschrieben wurden. An das Schlagwort vom "Global Village", das nach wie vor in aller Munde ist, muss in diesem Zusammenhang gewiss nicht gesondert erinnert werden. Es richtet unseren Blick auf die immateriellen elektronischen Datenräume, die immer häufiger die reale räumliche Ferne ersetzen, und versinnbildlicht all jene durch die neuen elektronischen Medien provozierten Verkleinerungen, Verkürzungen, Schrumpfungen des Raumes, die nicht nur unsere Begriffsinhalte neu definieren, sondern darüber hinaus gar unsere Lebensräume umordnen.
Entfernung und Präsenz
Es ist keine Frage, dass gerade uns Musiker diese Phänomene vor dem Hintergrund der rasanten Weiterentwicklung der elektronischen Medien zu Beginn des neuen Jahrhunderts immer stärker berühren. Ist es nicht gerade in Analogie zur Immaterialität der elektronischen Datenräume die Immaterialität des Klanges, die eine besonders intensive und sensible Reaktion auf die Neuorientierung der Perspektiven und auf die veränderten Bezugspunkte herausfordert? Für mich ist eine der spannendsten Fragen gegenwärtig, was wir unter dem Eindruck der Neuordnung des Raumes, in einer Zeit der Übergangslosigkeit, in der Nähe und Ferne gewissermaßen zusammenfallen, gemeinhin unter Entfernung und damit Präsenz verstehen. Stehen doch hinter dieser Frage für uns Musiker ganz konkret auch neue Fragen an die Wahrnehmung und die Distribution von Klang bzw. von Musik; eröffnen sich dadurch neue Blicke auf unseren Zugang zum Werkbegriff und zur Stellung von Musik in der Gesellschaft.
Terra Icognita
Gerhard E. Winkler: Terra Icognita
Die Aufhebung räumlicher und zeitlicher Distanzen bestimmt ganz wesentlich die Projekte des österreichischen Komponisten Gerhard E. Winkler und die NOWJazz Session I mit Christof Kurzmann und Andrea Neumann. Winklers "Terra incognita" basiert auf der Grundidee, eine Konzertsituation mit dem Installationstypus zu verzahnen. Er bietet die Möglichkeit, vermittels dreier Räume in den Gewerblichen Schulen Donaueschingen, ein und dasselbe Material aus drei Perspektiven zu betrachten. In der "Konzert-Lounge" explorieren das ensemble recherche und das Experimentalstudio der Heinrich Strobel Stiftung des SWR in einer Konzertsituation das Grundmaterial der Komposition. Die Musiker spielen nicht von Noten, sondern direkt von Bildschirmen, auf die eine "Echtzeitpartitur" projiziert wird. Die Live-Elektronik hat dabei die Funktion, mehrschichtige Zeitdehnungsaspekte, also zeitliche Schichtungen im Raum, wahrnehmbar werden zu lassen. In einem zweiten Raum können die in der "Konzert-Lounge" explorierten Klänge vom Publikum über Joysticks in Echtzeit weiterverarbeitet werden. Man könnte von einem Zeitfenster sprechen: Ein Zeitpunkt des Stückes wird "eingefroren" und in seine Tiefe hinein neu beleuchtet, interaktiv durch das Publikum selbst. Der dritte Raum schließlich ist eine Klanginstallation mit dem vokalen Material der Komposition.
4rooms
In 4rooms von Andrea Neumann und Christof Kurzmann in der Realschule werden, wenn die Performance am Freitagabend gleichzeitig von vier verschiedenen Radiostationen, HR2, Ö1, WDR3 und SWR2, live übertragen wird, ganz andere Distanzen überwunden. Im Kontrast zu dieser raumweitenden Situation steht bei diesem Projekt die intime Wandelkonzert-Situation in der Realschule selbst – als deutlicher Verweis auf die Ambivalenz von virtueller und realer Nähe bzw. Ferne.
Auracle
Im gleichen Kontext ist das Auracle Projekt von Max Neuhaus und seinem Team zu sehen. Ein Projekt mit einer offenen Architektur für Klanginteraktionen, die über das Internet gespielt und gehört wird und die sich als ein vernetztes Distanzen überwindendes Klanginstrument versteht, das durch die Stimme gesteuert wird.
"Poesie der Distanz"
Nähe und Ferne sind die zentralen Kategorien, die Benedict Masons Werk felt|ebb|thus|brink|here|array|telling bestimmen. Mason spricht gar von einer "Poesie der Distanz". Es geht in diesem Stück nicht so sehr um räumliche Klangverteilung, wie wir sie von Giovanni Gabrieli oder bei Karlheinz Stockhausens Gruppen kennen, als vielmehr "um akustische Phänomene innerhalb eines bestimmten Raumes und um die Art, in der ein Klang bei seinem realen oder illusionären Gebrauch auf Entfernung, Bewegung, Richtung und Resonanz reagiert." Die Baar-Sporthalle ist der Resonanzkörper, das übergroße Instrument, in dessen Inneren wir, das Publikum, Masons choreografierte Klänge wahrnehmen. Zum Thema wird damit auch die Präsenz des Klanges, die durch die uns allumgebende Lautsprechermusik ohnehin andere Dimensionen angenommen hat. Es ist eine Musik über das Hören und damit im Grunde eine Klanginstallation, die zugleich Aufführungscharakter besitzt.
"Poesie der Miniatur"
Ein Poet der Miniatur ist Manos Tsangaris. Seine "Drei Räume Theater S u i t e" trägt die räumliche Akzentuierung bereits im Titel. Es handelt sich dabei im Grunde um ein Stationentheater in der F.F. Hofbibliothek, das die Musiktage als Molekül thematisiert. Man könnte von einem Reality-Musiktheater sprechen. Das Publikum wird sich frei zwischen den Stationen bewegen können. Es gibt Schleusen, Gucklöcher, Panoramen, Mini-Projektionen, bespielte Objekte, Objekt-Präsentationen, verdeckte Orchester, die allesamt miteinander verschaltet sind. Tsangaris zwingt damit mehrere unterschiedliche, voneinander entfernte Räume in einen Wahrnehmungsraum.
Wolfgang Mitterer
Die Raum-Klang-Installation und die Performances "Zeit vergeht... III" von Wolfgang Mitterer experimentieren mit der Orgel der Katholischen Stadtkirche St. Johann. Diese Orgel kontrapunktiert er mit elektronischen Klängen im Raum, die ein 8-Kanal-Audiosystem in Bewegung setzt und damit im Raum verteilt. Sowohl aus konkretem Material der Orgel und synthetisch generierten Sounds erwächst auf diese Weise ein räumlich disponiertes "akustisches Bühnenbild".
Brückenschlag nach Indonesien
Geografische und kulturelle Grenzen überwindet das interkulturelle Projekt mit indonesischen und italienischen Komponisten. Christian Dierstein und indonesische Musiker des Ensembles Neue Musik Bandung mit nativen Instrumenten spielen in der Erich Kästner-Halle Werke von Dedy Hernawan, Ayo Sutarma, Dody Satya Ekagustdiman, Pierluigi Billone und Salvatore Sciarrino. Das Konzert ist gewiss insofern eine Herausforderung an uns Hörer, weil wir uns vor Ohren führen müssen, dass sich die indonesische Neue Musik in einem ganz anderen kulturellen Kontext behaupten muss, ganz andere Bezugspunkte experimentellen Arbeitens hat, als wir hier in Europa. Mit welchen für uns unvorstellbaren Auseinandersetzungen allein musikpolitischer Natur sich dies vollzieht, beschreibt Dody Satya Ekagustdiman in seiner Werkbeschreibung. Eine adäquate Wertung dieser indonesischen Kompositionen wird uns wohl nur gelingen, wenn wir bereit sind, unsere Perspektiven auf diese Musik zu verändern, wenn es uns gelingt, jene Flexibilität der Wahrnehmung einzunehmen, wie sie in der ostasiatischen traditionellen Landschaftsmalerei durch San-en-ho bestimmt wird. Im Buch von Kuo Hsi (nach 1000 bis ca.1090) steht folgendes geschrieben: "Es gibt drei Typen der Komposition, um einen Berg zu malen. Wenn man zur Bergspitze vom Fuß hinaufsieht, heißt es 'Höhenferne'. Wenn man hinter den Berg vom vorn stehenden Berg hinabsieht, heißt es 'Tiefenferne'. Wenn man den fernen Berg vom nahen Berg hinüberschaut, heißt es 'Weitenferne'. 'Höhenferne' bietet einen strengen, schroffen Eindruck, 'Tiefenferne' einen übereinanderliegenden tiefsinnigen Anblick und 'Weitenferne' eine ruhige undeutliche Weitsicht." Und gerade an Weitsicht sollte es uns in diesen Tagen nicht nur in Donaueschingen nicht fehlen.
Danksagungen
Zum Schluss ist es mir noch ein echtes Bedürfnis, Dank zu sagen. Mein Dank gilt selbstverständlich zuförderst all jenen Partnern des Festivals, die dieses schon seit vielen Jahren finanziell und ideell unterstützen: dem SWR und dessen Heinrich Strobel-Stiftung, der Stadt Donaueschingen, dem Land Baden-Württemberg und dem F.F. Fürstenhaus.
Als neuer Förderer hinzugekommen ist die Bundeskulturstiftung. Mein Dank gilt hier der Vorsitzenden des Stiftungsrates Frau Christina Weiss. Ihre Entscheidung, die Donaueschinger Musiktage in den illustren Kreis der "Leuchttürme" bundesrepublikanischer Kultur aufzunehmen, sollte uns allen Ansporn sein, nicht nur unsere musikalischen Recherchen in Donaueschingen zu intensivieren, sondern noch stärker in die Gesellschaft hinein zu wirken.
Beim Lesen des Programmbuches werden Sie aber auch bemerken, dass das Programm in diesem Jahr nur möglich wurde, weil besonders viele Kooperationspartner und Sponsoren kurz- oder mittelfristig an einem Strang gezogen haben. Mein ganz besonderer Dank gilt daher dem ZKM in Karlsruhe und der Kunststiftung NRW, ohne die das Stockhausen-Projekt nicht möglich geworden wäre.
Weiterhin danke ich dem Ensemble Modern, der Ensemble Modern Akademie, der KulturStiftung der Deutschen Bank, Shure Deutschland und den Berliner Festspielen (Maerzmusik) für die nicht zuletzt finanzkräftige Unterstützung von Benedict Masons felt|ebb|thus|brink|here|array|telling, der Akademie Schloss Solitude für die Betreuung des Auracle-Projektes, Prof. Dr. Dieter Mack für die großartige organisatorische Leistung bei der Betreuung der indonesischen Musiker sowie der Landesstiftung Baden-Württemberg für die Förderung der Aktivitäten in den Gewerblichen Schulen.
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