Donaueschinger Musiktage 2015 | Werkbeschreibung

Werke des Jahres 2015: "Freiheit – die eutopische Gesellschaft, Version I"

Stand
Autor/in
Patrick Frank

Musik – Performance – Kulturtheorie

Von der Utopie in die Eutopie. Von der Objektivierung der Quantitäten und der Relativierung der Qualitäten.

Einen entscheidenden Impuls für das von Armin Köhler in Auftrag gegebene Projekt mag mein 2014 in Einen entscheidenden Impuls für das von Armin Köhler in Auftrag gegebene Projekt mag mein 2014 in der Gessnerallee Zürich aufgeführtes Projekt "wir sind aussergewöhnlich, Version II", gegeben haben – eine Arbeit, die sich irgendwo zwischen Performance, Konzert und Diskussionsraum bewegte. Die Zusammenführung von Musik und diskursiven Disziplinen ist mir seit vielen Jahren ein wichtiges Anliegen: ob in Form einer Konzert-Installation (Limina 2007), eines Diskurskonzerts (wir sind aussergewöhnlich 2014) oder schlicht als ‚Projekt' (Sein/Nichts 2003).

Auch dieses Projekt ist als Konzert, Symposium und Happening angelegt. Es befindet sich in einem Setting aus mehreren Spielstätten (Halle, Festzelt und Garderoben), die von den BesucherInnen frei gewählt und während der Aufführung gewechselt werden können.
Den Grundstein meiner Arbeit legte das sorgsam ausgewählte Thema (Freiheit), mit dem ich mich zunächst intensiv kulturtheoretisch auseinandersetzte. Aus dieser Analyse entwickelte sich schließlich eine kulturtheoretische Erzählung, mein Theorielibretto. Im Projekt werden verschiedene Arbeiten unterschiedlicher künstlerischer und diskursiver Disziplinen miteinander verbunden. Teils wählte ich bestehende Werke, beispielsweise Daniel Hellmanns Performance "Full Service", oder auch Musikwerke, die ich als Werk im Werk innerhalb meiner eigenen Komposition einkomponierte, wie beispielsweise Cages "solo for sliding trombone". Andererseits gab ich neue Werke in Auftrag – als Auftrag im Auftrag – an die Komponisten Trond Reinholdtsen und Martin Schüttler, aber auch an den Philosophen Enno Rudolph und den Juristen Emanuel Schiwow.
Die einzelnen Auftragswerke, die als Szenen innerhalb der drei Akte komponiert sind, ordnete ich in die kulturtheoretische Erzählung ein, die durch meine zwei Hörspiel-Performance-Kompositionen, jeweils in den Akten "Freiheit als Utopie" und "Freiheit in Eutopie", vorgetragen wird.

Im ersten Akt, "Freiheit als Utopie", wird die These vorgestellt, dass der gesellschaftliche Wert "Freiheit" zunächst und lange Zeit eine Utopie war und somit für die Gesellschaft als ein in der Zukunft liegendes Versprechen ordnend wirkte. Gleichgültig ob rechter oder linker Gesinnung, ob Kapitalist oder Wissenschaftler, ob Künstler oder Handwerker: eine auf Freiheit gründende Gesellschaft würde (praktisch) allen Interessengruppen helfen. Sie war jedoch noch keine Realität, sondern erst ein Zukunftsversprechen. Die Art und Weise, inwiefern der Wert "Freiheit" vom Westen (insbesondere Mitteleuropa, UK und USA) im Laufe von 200 Jahren (1789-1989) interpretiert und in Realität gesetzt wurde, ist Gegenstand des ersten Aktes, "Freiheit als Utopie". In meiner gleichnamigen Hörspielkomposition werden folgende Themen angerissen:


1. Akt, 1. Szene (Frank):



(1): Das paulinische Christentum und die Erfindung der Mission: die Geburt des Sendungsbewusstseins, DNA der westlichen Kultur.
 

(2): Die positive und die negative Freiheit.
 

(3): Moderne Zukunft und die Geburt der gesellschaftlichen Utopie "Freiheit".
 

(4): Instrumentelle Vernunft und Rationalisierung: die Geburt der Leistungsgesellschaft aus dem Geist der Freiheit.


Dieser erste kulturtheoretische Blick auf Freiheit (1. Akt, 1. Szene) wird durch Enno Rudolphs Vortrag vertieft und erweitert (1. Akt, 2. Szene). 



Enno Rudolph Die Vernunft –Zuchthaus der Freiheit?

Nur selten ist die Idee der Freiheit ganz zu Ende gedacht worden – d.h. bis zu dem Punkt, wo die "Freiheit von" nicht mehr durch die Bindung an eine "Freiheit für" gesteuert wird. In der Regel wird die erkämpfte oder beschworene Freiheit umgehend auf einen Zweck, ein Ziel, ein neues Gesetz, ein Paradies – kurz: eine Utopie verpflichtet. Sie wird "zur Vernunft gebracht". Sie, die Vernunft, wird zum Zuchthaus der Freiheit: Die Vernunft weist ihr den Weg in die Bindungen, für die sie angeblich da ist: Staat, Gesellschaft, Familie, Arbeit und Gott.



Trond Reinholdtsens neues Werk schließt den ersten Akt ab (1. Akt, 3. Szene).

Trond ReinholdtsenIch habe mein eigenes Opernhaus gegründet, um die totale radikale utopische künstlerische Freiheit zu erreichen.

Pause. Bier und Wurst und vor allem: "Full Service" von Daniel Hellmann. Hellmann erfüllt Wünsche – nichts ist unmöglich. Voraussetzung ist – selbstverständlich! – eine finanzielle Einigung zwischen Kunde und Künstler. Die Preisverhandlung findet vorgängig statt, dann werden im Zelt diskret Wünsche erfüllt...

Der zweite Akt blickt auf die kurze eutopische Phase in der Kulturgeschichte des Westens. Mit der "Eutopie" (Idealgesellschaft) meine ich den Zeitraum zwischen dem 9.11.1989 – Mauerfall und vermeintliches Ende des ideologischen Kampfes West gegen Ost – und dem 11.9.2001, den Terroranschlägen in den USA. Obwohl Schlagwörter wie "Ende der Meta-Erzählungen", "Ende der Geschichte" oder "Ende der Utopien" bereits einige Jahre vor der eutopischen Phase die Runde machten,  widerspiegeln sie treffend den eutopischen Zeitgeist: Man wähnte sich nun "angekommen", was sich auch in der Bezeichnung Post–moderne manifestierte. Wer oder was aber war angekommen? In der Theorieoper wird behauptet: die Freiheit. Der 200-jährige Kampf um Freiheit und Gleichheit schien endlich obsiegt zu haben. Freiheit galt es jetzt nicht mehr zu erkämpfen, sondern zu leben, zu zeigen, zu beweisen. Mit der vermeintlichen Realisation von Freiheit verschwand die Utopie, das geteilte Zukunftsversprechen – (die Postmoderne als Evangelium der Moderne). Die eutopische Gesellschaft ist aus Überzeugung utopielos, denn Utopie ist nach eigenem Selbstverständnis obsolet geworden. Die Art und Weise, wie der Westen nun mit dieser neuen Situation umgegangen ist und wie Freiheit gelebt, gezeigt und bewiesen wurde, ist Gegenstand des zweiten Aktes, aber auch meines zweiten Stückes Freiheit in Eutopie (2. Akt, 1. Szene). Die besprochenen Themen des 1. Aktes tauchen nun wieder auf – wie sich zeigen wird, in blumiger Geschenkverpackung radikalisiert.


Martin Schüttlers Werk "Absolut Return+ALPHA" (Arbeitstitel) stellt die 3. Szene des 3. Aktes  dar.

Schließlich wird der Jurist Emanuel Schiwow das Themenfeld des 2. Aktes durch seine juristische Fachperspektive auf Freiheitsrechte erweitern.

Ich beobachte gesellschaftliche Entwicklungen gerne aus der Perspektive von Quantität und Qualität; in meinen kulturtheoretischen Texten tauchen diese Begriffe oft auf. Auch in vorliegendem Projekt werden sie eine wichtige Rolle einnehmen, die sich im Untertitel bereits ankündigt. Fortlaufend begleitet wird die Theorieoper durch eine in Echtzeit erstellte Quantifizierung des Projektes. Zudem werden die Besucher eingeladen, über die jeweils aktuelle (künstlerisch-theoretische) Qualität mittels bereitstehenden Tablets abzustimmen. Das Ergebnis wird live über die Monitore eingeblendet. 

Das Projekt ist als Experiment und work-in-progress zu verstehen. Die verschiedenen Aufführungen (bisher geplant: Donaueschingen, Zürich, Genf) werden sich weiterentwickeln und verändern – nicht nur, weil neue Teilnehmer, wie z.B. Slavoj Žižek in der Gessnerallee Zürich, die Reflexion des Themas ergänzen werden, sondern auch, weil die neuen Aufführungsorte erhebliche Änderungen erzwingen.


From Utopia to Eutopia: From the Objectivation of Quantities and the Relativization of Qualities

My project "wir sind aussergewöhnlich, Version II", carried out in Zurich's Gessnerallee, a work that moved between performance, concert, and discussion space, might have provideda decisive impulse for this project commissioned by Armin Köhler. The combination of music and discursive disciplines has been an important issue for me over many years, whether in the form of a concert installation (Liminia 2007), a disursive concert  ("wir sind aussergewöhnlich" 2014) or simply as a "project" (Sein/Nichts 2003). 

This project was also designed as a concert, conference, and happening. It takes place in a setting constructed out of several venues (a hall, a tent, and coat check) that can be chosen freely by the visitors and changed during the performance at will. The foundation of my work is the carefully chosen subject (freedom) that I explored in terms of cultural theory. This analysis resulted in a narrative of cultural theory, my theory-libretto. In the project, various works from various artistic and discursive disciplines were combined with one another. In part I chose existing works, for example Daniel Hellmann's performance "Full Service", but also works that I inserted as works within my own composition, for example Cage's "Solo For Sliding Trombone". At the same time, I commissioned new works as well, commissions within a commission, to the composer Trond Reinholdtsen and Martin Schüttler, but also the philosopher Enno Rudolph and the legal scholar Emanuel Schiwow. The individual commissioned works, which were composed as scenes within three acts, I organized in a cultural-theory narrative that is read as part of my two audio-play performance compositions, "Freiheit als Utopie" und "Freiheit in Eutopie".

In the first act, "Freedom as Utopia", I propose that the social value of "freedom" was initially merely a utopia, and thus had an ordering impact on society as a future promise. Regardless whether right wing or left wing, capitalist or academic, artist or craftsman, a society based on freedom would help (practically) all interest groups. But it was never reality, only a promise for the future. The way in which the value "freedom" was interpreted by the West, in particular Central Europe, UK, and the U.S.) over the course of 200 years (1789–1989), and was implemented in reality is the subject of the first act, Freedom as Utopia. The following subjects are touched upon in this composition:

1.Act, 1, Scene 1 (Frank):



(1): Pauline Christianity and the invention of the mission: the birth of the consciousness of a mission, DNA of Western culture: 

(2): positive and negative freedom 

(3): modern future and the birth of the social utopia "freedom"  

(4): Instrumental reason and rationalization: the birth of the performance society from the spirit of freedom

This first cultural-theoretical view of freedom (Act 1, Scene 1) is explored more deeply and expanded in Enno Rudolph’s lecture (Act 1, Scene 2). 



Enno RudolphReason: The Prison of Freedom

Rarely is the concept of freedom entirely thought through—that is, to the point where "freedom from" is no longer controlled by a link to a "freedom for." As a rule, the freedom that is fought for or asserted is usually committed immediately to a purpose, a goal, a new law, a paradise, in brief: a utopia. It is "brought to reason." Reason thus becomes freedom's prison. Reason points the way towards the binds for which it is supposedly there: state, society, family, work, and god.

Trond Reinholdtsen’s latest work closes the first act  (Act 1, Scene 3).

Trond ReinholdtsenI founded my own opera house to achieve a total, radical utopian artistic freedom

Intermission: beer and bratwurst and above all: "Full Service" by Daniel Hellmann. Hellmann fulfills wishes: nothing is impossible. A requirement: meeting a financial agreement between the customer and the artist. The price negotiations take place before hand, then discrete wishes will be fulfilled in the tent.

The second act looks at the brief Eutopian phase in the cultural history of the West. With the term "eutopia" (ideal society), I am referring to the period between Nov. 9, 1989, with the fall of the wall and supposed end of the ideological battle between the West and the East, and Sept. 11, 2001, with the terror attacks in the United States. Buzzwords like the "end of meta-narratives," the "end of history," or "end of utopias" already made the rounds several years before the eutopian phase, fittingly reflect the eutopian spirit: humanity thought they had "arrived," as reflected by the term "post-modernism." But who or what had arrived? This theory-opera makes the claim that it was "freedom" that had arrived. The 200-year struggle over freedom and equality seemed finally to have been won: freedom no longer needed to be fought for, but lived, proven. With the supposed realization of freedom, utopia disappeared, the shared promise of the future (post-modernism as the modern gospel). The eutopian society lacks a utopia, for according to its own self-conception utopia has become obsolete. The way in which the West approached this new situation and how freedom was lived, shown, and proven, is the subject of the second act, but also my second piece Freiheit in Eutopie (Act 2, Scene 1).  The subjects of Act 1 however surface again, as will be shown, radicalized in a flowery wrapping paper.

Martin Schüttler’s work "Absolut Return+ALPHA" (Arbeitstitel) represents the third scene of the Act III.

Finally, legal scholar Emanuel Schiwow will expand the subject area of Act 2 with his legal perspective on freedom rights.

I like to observe social developments from the perspective of quantity and quality: in my texts on cultural theory, these terms surface frequently. In this project as well, they also take on an important role, as shown in the subtitle. Continuously, the theory opera will be accompanied by a quanitification of the project in real time. In addition, the visitors are invited to vote on the current (artistic-theoretical) quality using tablets that will be provided. The result will be shown live on the monitors.

The project is to be understood as an experiment and a work-in-progress The various performances (planned until now: Donaueschingen, Zürich, Geneva) will continue to develop and change, not just because new participants – for example Slavoj Žižek in Zurich’s Gessnerallee – will complement the reflection of the subject, but also because the new performance sites will force significant changes.

Stand
Autor/in
Patrick Frank