Gerade erst waren neu entdeckte Aufnahmen der Beatles zu sehen gewesen: Die Dokumentation „Beatles ‘64“ von David Tedeschi und Martin Scorsese zeigt die jungen Pilzköpfe auf Amerika-Tour als aufgeregte Band, kurz vor ihrem ganz großen Durchbruch.
Nur einige Tage später störte ein britisches Auktionshaus die nostalgische Rückschau: Es bot über 300 Seiten aus den Jahren 1970/71 feil, die in einer Schrankecke aufgetaucht sein sollen und bezeugen, wie verhakt die Bandmitglieder in dem Rechtsstreit wirklich waren, den Paul McCartney gegen John Lennon, George Harrison und Richard Starkey führte.
Der neue Besitzer wird sich sicher einen eingehenden Einblick verschaffen können, für alle anderen scheint die Existenz dieser Papiere zu vermitteln: Ja, es war unausweichlich, dass die wohl berühmteste Popband der Welt sich nach nur zehn Jahren trennen musste.
Warum lösten sich die Beatles auf?
Die vielen Gründe, die zu ihrer Auflösung führten, sind eigentlich bekannt: Mit dem Tod ihres Managers Brian Epstein 1967 veränderte sich die Dynamik, McCartney wurde kontrollierend, George Harrison wollte sich endlich als Songwriter hevortun, Lennon sah sich mittlerweile als politischer Künstler, und Ringo Starr war so genervt, dass er bei den „White Album“-Aufnahmen abhaute (und wiederkam).
Zudem trank Ringo Starr viel, Lennon und Harrison konsumierten viele Drogen, McCartney war Vater geworden und sehnte sich nach dem Landleben.
Neben künstlerischen und persönlichen Gründen dürften es aber, so bezeugen es auch die Dokumente, geschäftliche Umstände gewesen sein, die sie vollends auseinander brachten.
Lennon, Harrison und Starr wollten den skrupellosen Allen Klein als Bandmanager, McCartney wollte seinen Schwiegervater. Anteile an Northern Songs Ltd. waren zudem ungleich verteilt. McCartney verkündete 1970 medienwirksam das Ende der Beatles.
Ein Sündenbock musste her: Wie der Mythos um Yoko Ono entstand
So weit, so komplex, und vielleicht liegt hierin der erste Grund, warum man lieber einen einzigen, griffigen Sündenbock suchte. Das waren aber bekanntlich nicht Klein, nicht McCartney oder Lennon –, sondern dessen Ehefrau.
Wenn in Filmen, Kneipentresen, Liedern, Fernsehserien, Late-Night-Shows oder Hauspartys die Beatles erwähnt werden, kann man fast sicher sein, dass irgendjemand die Pointe anbringt: Yoko Ono hat die Beatles getrennt. Der Yoko-Ono-Effekt als ewig schuldiger Frau reiht sich damit quasi direkt hinter Evas Erbsünde ein.
Dass die heute 91 Jahre alte Künstlerin diese Rolle zugeschrieben wurde, lässt sich beinah auf ebenso viele Gründe zurückführen, wie die Beatles-Trennung selbst.
Da gibt es die offensichtlichen: Dass sie eine Frau ist, beispielsweise (Eva eben!); eine Japanerin noch dazu (besonders in den Vereinigten Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg keine beliebte Nationalität); und dann auch noch Künstlerin (eine der Sorte Fluxus, die merkwürdige Avantgarde-Kunst macht).
Misogynie, Rassismus, bürgerliche Borniertheit – Ono vereinte vieles auf sich, womit sich die Nachkriegsgesellschaft erst noch arrangieren musste.
John Lennon und Yoko Ono: Eine Win-Win-Situation
Oder andersherum: Ono war ihrer Zeit voraus. Mit ihren Performances wie „Cut Piece“ (Marina Abramović sollte später für ein ähnliches Werk sehr berühmt dafür werden), mit ihrem Aktivismus (für nichts Geringeres als den Weltfrieden), und mit ihrem Feminismus (den sie bereits vertrat, bevor die zweite Welle der Bewegung ins Rollen kam).
Sie verstand sich als ebenbürtig gegenüber Männern – allen voran ihrem Ehemann John Lennon, den sie 1969 heiratete. Dass beide Weiß bei der Hochzeit trugen, darf man als Ausdruck dessen verstehen.
In ihren Künstlerkreisen war sie eine respektierte Größe, eine Welt, von der Lennon als Popstar Teil sein wollte. Für beide war es wohl so etwas wie eine Win-win-Situation in ihrer Beziehung: Er verschaffte ihr Bekanntheit, sie verschaffte ihm Glaubwürdigkeit – so verschmolzen Pop, Avantgarde, Aktivismus zu dem, was sie später bei ihrem Honeymoon-Happening oder ihren Alben präsentieren sollten.
Yoko Ono schrieb „Imagine“
Gern wird sie als musikalische Lachfigur dargestellt, bei der man sich nicht vorstellen könne, warum Lennon dafür die Beatles verlassen wollte (berüchtigt sind die Aufnahmen, in denen sie an der Seite Chuck Berrys ins Mikro kreischt). Dass Ono eine musikalische Ausbildung in Japan absolviert hatte und selbst ganz anständig Musik machen konnte, wird heute gern mal vergessen.
Dabei hatte sie an Songs, für die Lennon heute noch berühmt ist, erheblich mitgearbeitet. Erst 2017 wurde sie offiziell ins Impressum von „Imagine“ aufgenommen.
Das Konzept und die Lyrics stammten von ihr, sagte Lennon noch zu Lebzeiten: „Damals war ich ein bisschen egoistischer und machohafter”, erklärte er räuig. Er habe es „irgendwie versäumt“ ihren Beitrag zu erwähnen.
Ein Mann in den Fängen einer Frau?
Die beiden brachten in den Jahren bis Lennons Ermordung mehrere avantgardistische Alben heraus und inszenierten so etwas wie den ersten Celebrity-Aktivismus. Beides nervte viele Fans damals. Dass Lennon dabei genauso federführend war, konnten sich viele aber nicht vorstellen.
1970 veröffentlichte das Esquire-Magazin einen Artikel mit einer Illustration von Ono, die ihren Ehemann als Kakerlake an der Leine führt. Dass man Lennon dabei infantilisierte, störte ihn Jahre später noch.
Sie will sich nicht als Leidende sehen
Außergewöhnlich am Fall Ono ist, dass sie dieses Narrativ nie ausdrücklich zu demontieren versuchte. Während in den letzten Jahren andere weibliche Berühmtheiten, die lange öffentlich angeprangert wurden, ihre Geschichte in Dokumentationen (Pamela Anderson, Paris Hilton), Serien (Monica Lewinsky) und Rechtsstreiten (Britney Spears) neu erzählen konnten, hatte Ono in all den Jahrzehnten wenig dagegen angekämpft.
Sie sei genervt davon gewesen, sicherlich, aber sie wollte es lieber umdrehen: „Man stach so lange auf mich ein damit, dass ich es als Akupunktur ansah“, sagte sie in einem Interview. Sie nennt es „Energie für 200 Jahre“, die sie für sich nutzen könne.
Eine Provokation durch Existenz?
Man kann es auch weniger esoterisch deuten. Als 2021 „The Beatles: Get Back“ erschien, brachten viele die Dokureihe als Beweis an, dass Ono die Beatles nicht auseinander gebracht hätte. Regisseur Peter Jackson, der dafür 60 Stunden Material gesichtet hatte, erklärte, er habe sie nie eine Meinung äußern hören.
Der amerikanische Kulturkritikerin Amanda Hess fiel bei den Aufnahmen aber auf, dass Ono eine „bizarre, nervende Omnipräsenz“ einnehme: Sie saß einfach stets bei den Proben da, malte, aß, oder las etwas. Eine Provokation durch bloße Existenz, die beeindrucke, so Hess.
Ein Hinweis aus ihrer Kunst
Während die Beatles 1964 das erste Mal in den Vereinigten Staaten tourten, veröffentlichte Ono ein Anleitungsbuch für ihre Kunst namens „Grapefruit“. Darin instruiert sie das Publikum, man solle nicht auf Rock Hudson schauen, sondern allein auf Doris Day, nicht auf den Hauptdarsteller, sondern die weibliche Rolle also.
Vielleicht lässt sich das auch auf sie und die Band anwenden: Wer heute an die Beatles denkt, denkt immer auch an Yoko Ono.