Zu seinem 85. Geburtstag legt der Autor Volker Braun ein starkes Bändchen vor: „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ ist ein poetologisches, philosophisches und biografisches Vorhaben, unserer lauten Gegenwart beizukommen mit all den Krisen, Kriegen und Katastrophen.
Volker Braun, vor 85 Jahren in Dresden geboren. Mit seinem Vater, der später im Krieg bleibt, hat er vom Waldschlösschen jenseits der Elbe aus oft auf die historische Silhouette geschaut. Über idyllische Wiesen hinüber zur Altstadt. Als er fünf Jahre alt ist, brennt Dresden.
Zerstörung und Schönheit als Grunderfahrung
Volker Braun denkt und schreibt seit über sechzig Jahren hochverdichtete, tief wurzelnde Verse als Lyriker, schreitet weit ausholend als Essayist durch Geschichte und Gesellschaft, erforscht Menschen und Macht als Dramatiker oder deckt Wahrheit und Visionen auf als Erzähler.
Immer geht es um Widersprüche. „Fortwährender Versuch, mit Gewalten zu leben“ könnte über dem Dichterleben stehen und heißt wohl nicht von ganz Ungefähr das gleichermaßen gegenwarts- wie lebensanalysierende Buch, das kurz vor seinem Geburtstag erschienen ist.
Neben der genannten gibt es zwei weitere Erprobungen: „Versuch, mich mit den Füßen am Boden zu halten“ und „Versuch, mich auf einer Landmasse zu bewegen.“ Wie stets lauern zwischen all den anspielungsreichen Zeilen der Essays über eurasischen Kontinent, Klimakatastrophe oder Dichterexistenz vor allem Fragen.
Als Wegweiser dienen Zitate von Dichterkollegen
Die Grundgedanken jedes Kapitels veranschaulichen vorangestellte kleine Abbildungen unterschiedlicher Künstler. Eine mongolische Jurte am Hofe eines Großkhans führt zu den Ränken der Gegenwart zwischen östlichen und westlichen Wirtschafts- und Wertesystemen.
Zu Kriegen um Ideologien, Ressourcen und Territorien. Die Zeichnung sinkender nackter, verkrümmter Kreaturen verweist auf die Auseinandersetzung mit einer jungen Klimaaktivistin. Die zerstörten Elbbrücken legen die Spur in das eigene Leben. Als Wegweiser dienen Zitate von Kollegen. „Der Mensch ist die Antwort, egal, was die Frage ist“ heißt es da etwa von André Breton.
Ein reiches Buch an Namen, Formen und Überlegungen
Davon kündet jedes Wort dieses Buches mit seinen hundert bedruckten Seiten. Im Kopf des Lesers ergänzt um viele mehr. Weil man nach jeder Andeutung, jeder Namensnennung, jedem Verweis weiter forschen möchte und muss, um vieles verstehen, anderes verorten oder drittes besser verarbeiten zu können.
Wie ein kleiner Almanach zu den großen Themen unserer Zeit liest sich das an Namen (berühmter und unbekannter Dichterkollegen), Formen (Monologe, Dialoge, Perspektivwechsel) und Überlegungen (ungezählt) reiche Buch.
In seinen drei grundverschiedenen Aufsätzen nähert es sich den Abbruchkanten – von Gesellschaften, unseres Planeten, des eigenen Lebens. Es lohnt jeder Versuch, in den Abgrund zu schauen.
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Rezension von Jörg Magenau.
Suhrkamp Verlag, 56 Seiten, 16 Euro
ISBN 978-3-518-43021-7