Vladimir Sorokins groteske Phantasien machen ihn zu einem der bedeutendsten Autoren Russlands. Voller Häme, Erotik und drastischer Fäkalsprache führt er seine Helden durch eine komplett verrottete ehemals russische Landschaft. So auch im Roman „Doktor Garin“, der 2050 spielt. Die Überführung der russischen Erzählung des 19. Jahrhunderts in eine postmoderne Vielfalt macht Sorokins Romane so hypermodern.
Dr. Garin ist ein Reisender. Wer bei dem Namen an den ersten Menschen im Weltraum, an Juri Gagarin, denkt, liegt so falsch nicht. Auch der Psychiater Dr. Garin überschreitet Grenzen, mal mehr, mal weniger mühevoll, und bewegt sich mit einer Gruppe von Patienten, political beings genannt, in den russischen Norden.
Sie sind auf der Flucht vor einem konventionellen Atomkrieg, der, wir schreiben das Jahr 2050, inzwischen zu den handhabbaren Kampfstrategien gehört. Diese political beings haben keine Beine und kaum Arme, dafür aber große Hinterteile und Mundwerke, was sie nicht daran hindert, sich durch den Raum zu bewegen oder gar im Zirkus aufzutreten.
„Ich war's nicht!“
Obwohl sie nur beim Vornamen genannt werden, sind sie unschwer als Donald Trump, Vladimir Putin, Emmanuel Macron, Angela Merkel, Silvio Berlusconi und Boris Johnson zu erkennen, ihrer Macht längs beraubt und in wenigen Worten als Verlierer der Geschichte charakterisiert. Da verklingt Angelas markiger Satz „Wir schaffen das“ ebenso wie Wladimirs mantrahaft wiederholtes „Ich war's nicht!“.
Tatsächlich ist dies der einzige Satz, den die puppenhaft ins Groteske verzerrte Figur von sich gibt. Denn mit Putins Russland hatte Sorokin, der seit dem Beginn des Ukraine-Kriegs nun dauerhaft in Berlin lebt, bereits 2006 ungeheuer hellsichtig in „Der Tag des Opritschniks“ abgerechnet.
Bereits mit diesem Buch wurde Sorokin zu einem der wortmächtigsten Oppositionellen. Auch sein Doktor Garin ist ein Widergänger. Hatte er in dem Roman „Der Schneesturm“ noch Menschen gegen eine rätselhafte Krankheit impfen wollen, die jeden Infizierten zum Zombie macht, so ist er hier eine Art Wunderheiler mit einem magischen Elektroschocker, den auch die Mitarbeiter genießen dürfen.
Die Hypermodernität dieses Romans allerdings ist eine ganz eigene. Hier wird die Form der russischen Erzählung aus dem 19. Jahrhundert in eine postmoderne Vielfalt überführt, die klassische Abschweifung zum linearen Stilmittel und keine der Fragestellungen aufgelöst.
Eine tabulose, grotesk-erotische Welt
In der einer übergroßen Matrjoschka gleichen Erzählhaltung versteckt sich in jeder Geschichte, und sei sie noch so klein, eine weitere, die nicht immer verlässlich zu Ende erzählt wird. Dafür wird in dieser grotesk-erotischen Welt kein Tabu ausgelassen.
War Sorokin in den früheren Romanen immer noch vorsichtig genug gewesen, um unangefochten nach Moskau zurückkehren zu können, so kennt er hier keine Grenzen mehr. Das ist zum großen Teil ungeheuer unterhaltsam, mitunter aber auch etwas ermüdend.
Großartig allerdings, wie Sorokin immer wieder aus der Absurdität der Verwandlung reale Bezüge aufblitzen lässt. Wenn Garin zum Beispiel in die Gefangenschaft von merkwürdigen Mutanten gerät, die er Zottelorks nennt, und damit die Beschreibung des Gulags gekonnt persifliert, oder wenn er den Leser am Schluss in eine sibirisch anmutende raue Wildnis führt.
Was er dort findet, ist aber nicht die vielbeschworene russische Seele, sondern die Vereinigung mit seiner verlorenen Geliebten. Nicht ganz im Wortsinn, aber doch immer noch hoch erotisch.
Gespräch „Putins Krieg gegen Frauen“ – Neuer Roman von Sofi Oksanen
Gewalt prägt die Gegenwart im sowjetisch besetzten Baltikum in den 60er- und 70er-Jahren. Darum geht es in mehreren Romanen von Sofi Oksanen. Nun hat sie ein neues Buch geschrieben: „Putins Krieg gegen Frauen“.
Buchkritik Vladimir Sorokin – Die rote Pyramide. Erzählungen
Vladimir Sorokin gilt als einer der bedeutendsten zeitgenössischen Schriftsteller Russlands. In Kreml-treuen Kreisen verachtet man ihn allerdings als Provokateur. Sein neues Buch „Die rote Pyramide“ versammelt neun Kurzgeschichten. Darin zeigt Sorokin, wie in Putins Russland sowjetische Vergangenheitsverklärung und postsowjetische Leere unheilvolle Allianzen eingehen. Überraschungen sind garantiert, denn Sorokin spielt auch in diesem Buch sein Talent zur Groteske wieder voll aus. | Aus dem Russischen von Andreas Tretner und Dorothea Trottenberg | Verlag Kiepenheuer & Witsch, 191 Seiten, 22 Euro | ISBN 978-3-462-05370-8 | Rezension von Clemens Hoffmann
Buchkritik Kira Jarmysch - Dafuq
Kira Jarmysch, die Sprecherin von Kremlkritiker Nawalny, hat bereits mehrfach wegen ihres Engagements in russischen Gefängnissen gesessen. In ihrem Debütroman "Dafuq" verdichtet sie die üblen Zustände in Justiz und Strafvollzug zu einem erhellenden Roman über das heutige Russland.
Rezension von Clemens Hoffmann.
Aus dem Russischen von Olaf Kühl
Rowohlt Verlag, 413 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-7371-0140-0
Buchkritik Giuliano da Empoli – Der Magier im Kreml
Giuliano da Empolis Roman "Der Magier im Kreml" führt ins Herz der russischen Macht - zu Wladimir Putin. Hauptfigur ist ein Mann namens Wadim Baranow, der Putins ehemaligem Berater Wladislaw Surkow stark ähnelt. Da Empoli erzählt, wie Putin Zar und Stalin in Personalunion wurde. In "Der Magier im Kreml" trifft literarische Fiktion gekonnt auf Zeitgeschichte.
Rezension von Andreas Puff-Trojan.
Aus dem Französischen von Michaela Meßner
C.H. Beck Verlag, 265 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-406-79993-8