Seit langem war die Rede von der Fortsetzung von Uwe Tellkamps Erfolgsroman „Der Turm“. Jetzt erscheint „Der Schlaf in den Uhren“: eine Chronik der Wendezeit, ein großes Buch der Erinnerung – ohne Nostalgie, Wehmut, Beschönigung.
Durch Mehrdeutigkeiten schafft Tellkamp eine rätselhafte Atmosphäre
Der Held heißt Fabian Hoffmann, gehört zum Dresdner Bildungsbürgertum, den Turmbewohnern, und ist der Cousin von Christian Hoffmann, dem Protagonisten aus Tellkamps vorigem Roman „Der Turm“. Seine berufliche Position ist schillernd, er arbeitet beim Flottenministerium, genauer über Seeminen, aber vor allem als Chronist der 1001Nacht-Abteilung der sogenannten „Sicherheit“. Diese Mehrdeutigkeit der Zuordnungen, der Funktionen ist Prinzip von Tellkamps Buch und ein wesentlicher Teil seiner rätselhaften Atmosphäre.
Die Sicherheit ist der trevische Geheimdienst, die Hauptstadt heißt Treva, wie eine alte Bezeichnung für Hamburg, steht gleichzeitig irgendwie für Westdeutschland, dann für das wiedervereinigte Deutschland.
Der Protagonist Fabian Hoffmann sammelt Material für eine Chronik über die Wendezeit
Der Roman spielt – mit wenigen Ausnahmen – auf zwei Zeitebenen, 1989/1990 und 2015. Denn zum 25. Jubiläum der Wiedervereinigung sammelt Fabian Material für eine Chronik über die Wendezeit. Und das ist das, was wir zu lesen bekommen. Ergänzt um die täglichen Einträge, Gedanken, Rückblicke, Erinnerungen.
Aber Material ist noch nicht Erzählung. Auf diese Unterscheidung achtet die 1001Nacht-Abteilung genau. Und der Autor: Darum fehlt dem Roman bewusst ein übergeordnetes Narrativ, wie es einmal heißt. Uwe Tellkamp legt nahe, dass sein Buch genau in dieser Verweigerung sein subversives literarisches Potential entfaltet, um nicht ideologisch instrumentalisierbar zu sein.
Die ironische Volte: Nur die Wiedervereinigung kann den Geheimdienst retten
Narrative inszeniert im Roman ein gewaltiger medial-politischer Komplex, eben die 1001Nacht-Abteilung. Und die ist es eine überraschende ironische Volte, die zuerst erkennt, dass nur die Wiedervereinigung ihren Geheimdienst retten kann – als Gesamt-trevischen. So wird der Operative Vorgang „Unio“ aufgelegt und aus: „wir sind das Volk“ wird „wir sind ein Volk“.
Viele Protagonisten der Wendezeit kommen als Klarnamen vor, andere werden angedeutet: Helmut Kohl, Wolfgang Schäuble, Gregor Gysi, Rudolf Augstein, Günter Grass, der den Ostdeutschen ihre kommode Diktatur erklärt.
Anne Hoffman, Spitzname „Mutti“, ist Kanzlerin vom vereinigten Treva
Zentral ist Anne Hoffman. 2015 ist sie Kanzlerin vom vereinigten Treva und nicht nur über den Spitznamen „Mutti“ Angela Merkel nachempfunden. In der Chronik der Wendejahre sehen wir sie als aktive Politikerin in der Dissidentenszene, beim Neuen Forum, beim Demokratischen Aufbruch. Sie versteht schon früh Kompromisse zu schmieden, pragmatisch zu sein und sie weiß, die Macht sitzt nicht bei der Bürgerrechtsbewegung, nicht bei den Sozialdemokraten, sondern beim Mammut alias Helmut Kohl.
Im Jahr 2015 steckt sie in Problemen. Sie hat sich bei einem Treffen mit Flüchtlingskindern – ganz wie Angela Merkel – wenig empathisch gezeigt. Jetzt beginnt der operative Vorgang „Eiskönigin“, um ihr Bild zu rehabilitieren. Dabei steht die Frage nach der Macht im Zentrum. Sie ist das eigentliche Forschungsprogramm von Fabian Hofmann, der sich durch die Geschichte der bundesdeutschen Nachkriegszeit gräbt und fragt, vor allem seinen Mentor: Martin Delanotte – der stark an Thomas de Maiziere erinnert.
Tellkamps Welt ist keine realistische, wir bewegen uns immer auch in einer Alb-Traumwelt
Der große andere im Spiel ist Meno Rohde, den wir wie viele andere Personen aus dem „Turm“ kennen. Er ist immer noch Teil der Literatur- und Verlagsszene, skrupulöser Lektor, schweigsam, undurchschaubar, und auch Teil der 1001Nacht-Abteilung. Janusköpfig wäre das mindeste, was man von ihm sagen muss.
Tellkamps Welt ist keine realistische, wir bewegen uns immer auch in einer Alb-Traumwelt, einer Phantasmagorie. Sein Roman spielt im Zwielicht. Seine Mittel sind – neben dem nüchternen Ton der Chronik – Satire, Groteske, Bravourstücke überbordender Beschreibungslust. Aber rhetorisch doch deutlich zurückgenommener als im „Turm“.
Was ist mit dem rechten, dem AfD-nahen Uwe Tellkamp?
Und was ist mit dem rechten, dem AfD-nahen Uwe Tellkamp? Es gibt einige überraschende Einträge, die dem Jahr 2021 zugeordnet werden und die etablierte Zeitlogik durchbrechen. Im ersten berichtet Fabian, dass er jetzt nicht mehr bei der Sicherheit arbeitet. Man kann sich zusammenreimen, warum.
Dann gibt es einen weiteren Bericht der Sicherheit aus diesem Jahr, in dem der Autor Telramund für das kritisiert wird, was Uwe Tellkamp in seiner Debatte mit Durs Grünbein behauptet hat, 95% der Flüchtlinge würden nur in unsere Sozialsysteme einreisen wollen. Genau diesen Part hat Tellkamp in der rechten Zeitschrift „Tumult“ vorabdrucken lassen. Aber das hält dieser Roman spielend aus.
Im letzten Drittel wird der Ton des Chronisten Fabian Hoffmann persönlicher und gereizter, davor gab es ein, zwei abfällige Kommentierungen der geschlechtergerechten Sprache und rechtes Vokabular zur Beschreibung der Flüchtlingskrise. Er outet sich als Kritiker der Grünen, der die üblichen Klischees über ihre Vertreter aufruft, die gerade von der Realität hinweggefegt werden.
Tellkamp hält seinen Chronisten moralisch und charakterlich vieldeutig
Doch hier spricht Fabian Hoffmann und nicht Uwe Tellkamp. Und dem gelingt es auch, seinen Chronisten wie nahezu alle seine Figuren hinreichend moralisch und charakterlich vieldeutig zu halten, was entschieden für die literarische Qualität des Romans spricht. Nicht umsonst erfahren wir nach seinen ressentimentgeladenen Ausbrüchen, er – Fabian – hat seine rebellische Schwester Muriel in der Schule existentiell verraten und ihren Weg in eine menschenverachtende Erziehungseinrichtung geebnet.
Bei der Frage der Macht, der Politik findet der Roman keine Antwort - oder nur eine verschwörungstheoretische
Letztlich schwächelt der Roman nur bei der Frage der Macht, der Politik, weil er darauf keine Antwort findet. Oder nur eine verschwörungstheoretische. Warum? Weil er sich für Zeitungen mehr interessiert als für Social Media, weil er die Schreibmaschine liebt, aber nicht den Computer.
Die technische Utopie der Sicherheit liegt in der Vergangenheit, da teilen Verfasser und Geheimdienst wohl die gleiche Nostalgie. Aber dieser großartige Roman ist dabei so wenig nostalgisch wie Prousts „Recherche“, denn das Vergangene ist einfach nicht schön. Und: weil er sich Macht nur nach dem Modell Oberfläche-Tiefe vorstellen kann, nach steuerndem Hinterzimmer und ausführendem Vestibül, nach einem polit-medialen Komplex, der die Narrative kontrolliert. Dass Personen und Personal Macht ausüben, lässt sich natürlich leichter erzählen als Markt und strukturelle Macht.
Diese Tiefe-Staat-Diagnose orientiert sich erst einmal am Plotversprechen eines Geheimdienstthrillers, dunkle Fürsten der Finsternis unterwandern und steuern unsere liberale Öffentlichkeit. Aber diese zynische Erfolgsgeschichte der Manipulation berichtet ein zunehmend wütender und politisch wohl eher rechtsstehender Ich-Erzähler, er ist also mindestens unzuverlässig.
Triumph oder Scheitern der dunklen Mächte? Das lässt der Roman offen
Und: dies ist nur ein Erzählstrang, denn die Chronik dokumentiert ja gerade das – glücklicherweise – totale Versagen der Sicherheitsdienste in der Wendezeit. 1989/90 und 2015 spiegeln sich wechselseitig.
Triumph oder Scheitern der dunklen Mächte? Das lässt der Roman offen. Er beginnt mit einer wilden paranoiden Phantasie und endet damit: Die obsessive Suche nach Kontrolle implodiert in einem grotesken Verfolgungswahn. Eigentlich keine guten Aussichten für Verschwörungstheorien.
Große Romane sind immer schlauer als ihre traurigen Helden.
Gespräch Scheindebatte – Spekulationen über Suhrkamp und Tellkamp
Gespräch mit SWR Literaturchef Frank Hertweck zu Spekulationen über den Suhrkamp Verlag und dessen Verhältnis zum Autor Uwe Tellkamp
Kommentar zu Uwe Tellkamps Ein- und Auslassungen Jedem seine Lieblingsnische
Uwe Tellkamp hat in der „rechtsintellektuellen“ (so die Zeitschrift über sich) Zeitschrift „Sezession“ einen offenen Brief veröffentlicht. Er möchte nun nicht mehr diskutieren. Vor allem nicht mit den „Edelignoranten in Kirche, Kultur, Medien“, die einen „Gesinnungskorridor“ bilden. SWR2 Literaturredakteur Carsten Otte kommentiert.