„Was macht der Mann da“, fragt der kindliche Ich-Erzähler seine Mutter, und die schreit nur: „Nimm deinen Kopf da weg.“ Dann erklingt ein Schuss aus der Ferne, und aus dem Hals des Mannes, der ganz in der Nähe von Mutter und Sohn steht, spritzt ein dunkler Strahl Blut. Die Mutter bedeckt die Augen des Jungen. Der sieht den Mann nicht sterben, aber, so schreibt Tijan Sila, noch bis in die Nullerjahre hinein habe er von dem Röcheln geträumt, das noch zu hören war.
Es gibt nur wenige Szenen in „Radio Sarajevo“, die derart drastisch vom Leiden und Sterben im jugoslawischen Bürgerkrieg erzählen. Und doch ist dieses mitreißende und zugleich erschütternde Buch auf jeder Seite voll von Eindrücken, Beobachtungen und Ungeheuerlichkeiten. Sie führen eindringlich vor Augen, was es für das Leben eines Kindes bedeutet, wenn die Gewalt so lange in den Alltag einsickert, bis nichts anderes als Verrohung übrigbleibt.
Als Elfjähriger im bombardierten Sarajevo
Anders als Tijan Silas im Jahr 2017 erschienenes Debüt „Tierchen unlimited“ ist „Radio Sarajevo“ nicht als Roman ausgewiesen. Vielmehr sei das neue Buch, so schreibt Sila es in seinem Nachwort, der Versuch, seine Generation dem Vergessen der Geschichte zu entreißen. Wie der Autor heißt auch der junge Ich-Erzähler Tijan. Er lebt mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder in einer Plattenbausiedlung in Sarajevo.
Als 1992 die ersten Bomben auf Sarajevo fallen, liegt der Elfjährige auf dem Bett und hört im Radio einen Song von David Bowie. Das Radio und die Popmusik werden in den folgenden Kriegsjahren von großer Bedeutung für den Jungen bleiben. Wie der Krieg sich in alle Lebensbereiche ausweiten wird – davon ahnt die Familie zunächst nichts.
Pornomagazine und Süßigkeiten für die UN-Friedenstruppen
In der Siedlung gelten Tijans Eltern als Außenseiter. Die Mutter ist Literaturwissenschaftlerin und schreibt an ihrer Promotion; der Vater ist Professor für Bibliothekswissenschaften. Dass er sich nicht freiwillig zur Armee meldet, sondern für das Rote Kreuz arbeitet, stempelt auch Tijan selbst in seinem engen Freundeskreis zum Feigling und Verräter.
Eindrücklich und großartig geschriebene Szenen reihen sich in „Radio Sarajevo“ aneinander: In den Kellern der Plattenbauten plündern die Kinder das Eigentum der früh geflohenen Nachbarn. Aus heiterem Himmel zerschmettert eine Gewehrkugel die Terrassentür und schlägt in einen Kochtopf auf dem Herd ein. Mit den Soldaten der UN-Friedenstruppen betreiben Tijan und seine Freunde einen schwunghaften Handel mit Pornomagazinen und Süßigkeiten. Und der Kampf um Brennholz nimmt im ersten eiskalten Kriegswinter bizarre Formen an.
Alltagsgewalt und Flucht nach Mannheim
All das ist grausam und wird von Tijan Sila in einem Tonfall geschildert, der sich immer wieder betont heiter gibt, um den Schrecken zu überspielen. So war es bereits in seinem Debüt, das vom Ankommen der Familie im Deutschland des Jahres 1994 erzählt. Das Brutalste an „Radio Sarajevo“ sind allerdings die Schilderungen dessen, wie die Härten des Krieges sich ganz selbstverständlich in die zwischenmenschlichen Strukturen hineinfressen, ohne Aussicht auf Heilung.
Geschlagen hat Tijans Vater seine Kinder immer schon, doch die familiäre Gewalt erreicht nun eine neue Dimension. Und auch der Lehrer, der den provisorischen Unterricht übernimmt, entpuppt sich als Sadist. Tijans Freunde fangen an, Klebstoff zu schnüffeln. Und Tijan selbst? Ist auch nicht mehr derselbe. Ein durch die Ruinen streifender Wildling sei er geworden, sagt er.
1994 flieht Tijan – wie der Autor selbst – mit seinen Eltern auf abenteuerlichen Wegen nach Deutschland und kommt in Mannheim an. Dass der Krieg mit der Flucht nicht vorbei ist, ist eine Binsenweisheit, die in „Radio Sarajevo“ mit Leben gefüllt wird: Tijans Eltern werden in Deutschland scheitern, in jeder Hinsicht.
Und er selbst? Unterrichtet seit mehr als 15 Jahren als Lehrer an Berufsschulen. Immer wieder, so schreibt er, werde er wegen seines rüden Tonfalls zur Schulleitung vorgeladen. Woran das liege, fragt er sich und gibt gleich die Antwort: Am Krieg. Wie alles in seinem Leben.