Berlin by Night: Damit die einen feiern können, müssen die anderen die Infrastruktur fürs Partyvolk bereitstellen. Prekäre Jobs, wackelige Lebensentwürfe, Träume nahe am Scheitern.
Thorsten Nagelschmidt zeigt uns in seinem beeindruckenden Großstadtroman „Arbeit“ ein Berlin jenseits allen Glamours.
Er porträtiert diejenigen, die die „hard jobs“ machen und ohne die nichts laufen würde in unserer Gesellschaft: Taxifahrer, Polizisten, Notfallsanitäter, Türsteher, Lieferantinnen und Verkäuferinnen.
Nagelschmidt ist Musiker mit einem Faible für Literatur
Dass Thorsten Nagelschmidt ein gewisses Faible für Literatur hat, konnte man schon ahnen, als er noch Sänger, Gitarrist und Komponist der Punk-Band Muff Potter war.
Der Name der Gruppe nämlich ist Mark Twains Roman „Die Abenteuer des Tom Sawyer“ entnommen – der unschuldig eines Mordes bezichtigte Landstreicher hieß so.
Erst kürzlich feierten Muff Potter ihr Comeback
Mit Muff Potter war der 1976 in Rheine geborene Nagelschmidt, der sich damals Nagel nannte, viele Jahre auf allen möglichen alternativen Konzertbühnen und Festivals unterwegs.
Nach acht Alben war 2009 erst einmal Schluss – auch wenn vor kurzem mit einer neuen Single ein Lebenszeichen der Band zu vernehmen war.
Nagel machte in den Folgejahren solo weiter – und vor allem als Autor von sich reden. Schon 2007 war sein erster Roman „Wo die wilden Maden graben“ erschienen, 2010 folgte „Was kostet die Welt“.
Der Roman spielt in Nagelschmidts Wahlheimat Berlin
Unter seinem bürgerlichen Namen Thorsten Nagelschmidt kam 2018 der Roman „Der Abfall der Herzen“ heraus. Und nun legt er ein neues Buch vor: „Arbeit“ ist ein Großstadt-Roman, der in Nagelschmidts Wahlheimat Berlin spielt.
Der Mythos Berlin ist in den letzten Jahren ein bisschen verblasst – inzwischen ist auch in der Partyzentrale Europas die kapitalistische Normalität eingezogen und die Immobilienspekulanten haben auf ihrem Raubzug fette Beute gemacht.
Manche Stadtteile wie Mitte oder Prenzlauer Berg sind inzwischen durchhomogenisiert – eine kaufkräftige, relativ junge Mittelschicht hat sich hier breit gemacht.
Die billigen Mieten führten den Autor vor 15 Jahren in die Stadt
Und doch hält sich das Bild vom hedonistischen Berlin weiterhin hartnäckig – arm, aber sexy. Aus der ganzen Welt strömen sie herbei, um die Nacht zum Tag zu machen. Zumindest war das so in Prä-Corona-Zeiten.
Der Musiker und Autor Thorsten Nagelschmidt ist vor 15 Jahren in die Hauptstadt gekommen, weil man sich damals noch – anders als in anderen Großstädten – eine Wohnung leisten konnte.
Im Fokus stehen die Jobs, die das Nachtleben am Laufen halten
Thorsten Nagelschmidts neuer Roman „Arbeit“ handelt nicht von jenen, die im Strobo-Licht tanzen, von den Feiernden und DJs, den Bohemiens und schlaflosen Künstlern, auf die in den letzten Jahren oft genug die Scheinwerfer der internationalen Presse und auch der Gegenwartsliteratur gerichtet war.
Vielmehr begleitet er jene, die dafür sorgen, dass das Nachtleben Berlins überhaupt stattfinden kann; Menschen, die sich aus Geldmangel und ihrer Jobs wegen die Nächte um die Ohren schlagen müssen oder von der Schlaflosigkeit auf die Straße getrieben werden.
Man könnte auch sagen: Von jenen Dienstleisterinnen und Dienstleistern, die gerade in diesen merkwürdig gedimmten und von der Pandemie bestimmten Zeiten den Betrieb am Laufen halten.
„Arbeit“ ist kein Corona-Roman
Wir begleiten einen Taxifahrer durch seine Nachtschicht, wir begegnen Sanitätern und Polizisten oder einem Angestellten im Hostel, aber eben auch Türstehern und einem Drogendealer.
Vom ersten Corona-Roman zu sprechen, wie es das auf Pointen zielende Feuilleton bereits getan hat, wäre allerdings eine unangemessene Reduzierung dieses kaleidoskopartigen, vielschichtigen Berlin-Romans.
Nicht nur, weil das Buch abgeschlossen war, bevor die Viren sich in Körper und Bewusstsein breit machen konnten.
Geplatzte Träume und Sehnsucht nach einem besseren Leben
Jede und Jeder in diesem Buch hat seine eigene, weit in unsere gegenwärtigen Gefühlsökonomien eindringende Geschichte, und viele handeln von geplatzten Träumen und der Sehnsucht nach einem anderen Leben, die viel mit der krisenhaften Zeit, aber erst einmal nichts mit einer zugespitzten Krise wie der aktuellen zu tun haben.
Nagelschmidt recherchierte für „Arbeit“ wie ein Reporter
Nagelschmidt ist bei der Recherche für seinen Roman wie ein Reporter vorgegangen; er hat sich sogar ganz Günther-Wallraff-mäßig Undercover als Hostelportier oder Türsteher betätigt.
Und er hat viele und ausführliche Interviews geführt:
Treffend beobachtete Details verleihen dem Roman Würze
Thorsten Nagelschmidt gelingt etwas, was selten ist: Einerseits nimmt er die herrschenden Klischees durchaus ernst, andererseits unterläuft er sie mit seinen Geschichten immer wieder.
Nie hat man das Gefühl, das gesammelte Material würde die Handlung erdrücken. Es sind die kleinen Details, die wechselnden, oftmals rauen Sounds, die seinen Roman zu etwas Besonderem machen.
Die verschiedenen Episoden sind raffiniert miteinander verschränkt, ohne dass aufdringliche Bezüge geschaffen würden – wie es Robert Altman in seinem Film „Short Cuts“ gelungen ist.
Die Kolumbianerin Marcela arbeitet als Essenslieferantin
So erzählt er etwa von Marcela, die aus Kolumbien stammt, Essen ausliefert, also einen jener miesen, schlecht bezahlten Jobs verrichten muss, die Christoph Bartmann einmal unter dem Titel „Rückkehr der Diener“ als Auswuchs einer spätkapitalistisch-digitalen Ökonomie beschrieben hat.
Die einzelnen Szenen sind Teil eines Panoramas
Gleichwohl wird Marcela nicht als Opfer der Verhältnisse dargestellt: Wie bei allen Helden in „Arbeit“ gibt es jene Spannung aus Selbstverwirklichungssehnsucht und Desillusionierung, hedonistischem Impuls und erschöpftem Realismus.
Zwischen diesen Polen schwankt der Roman, und sprachlich erzeugt das ein fortwährendes Flimmern, auch weil die verschiedenen Szenen in sich funktionieren und zugleich Teile eines Panoramas sind, das sich nach und nach entfaltet.
Zahlreiche literarische Bezüge machen den Roman reizvoll
Zum Reiz dieses Buchs gehören auch die vielen, locker eingestreuten literarischen Bezüge etwa zu einem Großstadtroman wie „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, zu Autoren wie Rainald Goetz oder Rolf Dieter Brinkmann, dessen Gegenwartsemphase und Zivilisationshass an einer Stelle ausgiebig paraphrasiert werden.
Oder zu einem anderen wichtigen Metropolenbuch:
Die Handlung des Romans spielt in einer einzigen Nacht
John Dos Passos voluminöser Roman erzählt mehrere Jahrzehnte. Thorsten Nagelschmidt beschränkt sich auf eine Nacht:
Bemerkenswert ist, was er alles in diese Nacht hineinpackt, ohne sein Buch zu überfrachten: „Arbeit“ ist ein Roman voller Abgründe und Nischen.
Nagelschmidt zeigt auf, wer die Großstadt am Laufen hält
Er feiert das Dunkle der Metropole, indem er den Überlebenskampf schildert, das Scheitern und die kleinen Momente des Glücks.
Nagelschmidts Figuren treten auf und wieder ab; manche begleitet man mehrere Stunden durch ihre Nacht (wie etwa den Taxifahrer Bederitzky); andere nur eine kurze Weile (wie Marcela) – und doch erhalten sie alle ein Gesicht, eine Geschichte, eine Gestalt.
Jetzt, wo Berlin im Corona-Schlaf vor sich hindämmert und wir innehalten können, führt uns dieser wunderbare Roman umso deutlicher vor, wer eine Großstadt nicht nur in normalen Zeiten am Laufen hält.