131 Tote, das ist die Bilanz der Terroranschläge vom 13. November 2015 in Paris, als islamistische Terroristen ein Blutbad vor dem Stade de France, auf den Terrassen der Cafés in der Hauptstadt und im Konzertsaal Bataclan anrichteten.
Eine Nacht voller Grauen, die sechs Jahre später in dem bisher größten Terror-Prozess der französischen Geschichte aufgearbeitet wurden. 14 Angeklagte, 1800 Nebenklägerinnen und Nebenkläger, 350 Anwälte und unzählige Journalistinnen und Journalisten aus der ganzen Welt verfolgten die Gerichtsverhandlung, die mehr als 9 Monate dauerte.
Einer von Ihnen: der französische Schriftsteller Emmanuel Carrère. Er hat für die Zeitschrift L’Obs aus dem Prozess berichtet und aus seinen Berichten ein Buch verfasst. „V13“ der Titel - so wurde auch der Mammut-Prozess genannt. Die Abkürzung steht für Vendredi 13 – Freitag der 13.
Carrères Schreibstil wird in Frankreich oft als Enquete bezeichnet, eine Art Ermittlung. In seiner Gerichtsreportage widmet er den Überlebenden und Hinterbliebenen den größten und stärksten Teil seines Buches.
„Est-ce que je tiendrai le coup?“ - Werde ich durchhalten? Diese Frage stellt sich Emmanuel Carrère, noch bevor er am 8. September 2021 zum ersten Mal den eigens für diesen Prozess gebauten Gerichtssaal betritt. Von nun an wird der Schriftsteller über 9 Monate fast jeden Tag auf die Ile de la Cité fahren. Dort, wo auch die Pariser Kathedrale Notre Dame steht, im Herzen der Hauptstadt, liegt der Justizpalast. Dort beginnt V13. Der größte Terrorprozess der französischen Geschichte. Emmanuel Carrère hat beschlossen, ihn von Anfang bis Ende zu begleiten:
„Ich habe mir gesagt, das wird interessant. Ich will erfahren, wie eine Terrorzelle funktioniert. Ich interessiere mich für Religion, für die Justiz. Und es wurde noch viel interessanter, als ich es für möglich gehalten.“
Sagt Emmanuel Carrère im Interview mit dem französischen Radio-Sender France Inter. Auf den ersten Blick scheint es ungewöhnlich, dass ein Schriftsteller freiwillig in die Rolle eines Prozessbeobachters schlüpft. Doch Religion, Fanatismus und die Justiz sind Themen, mit denen sich Carrère immer wieder auch in seinen Romanen auseinandergesetzt hat.
Schrifsteller Carrère schlüpft in die Rolle eines Ermittlers
Sein Schreibstil wird in Frankreich oft als Enquete bezeichnet, eine Art Ermittlung. Der Pariser Terrorprozess ist genau das. Er versucht die Horror-Nacht des 13. Novembers zu rekonstruieren. Carrère folgt der Chronologie des Prozesses – die Opfer, die Täter, das Gericht – sind die drei großen Kapitel seines Buches. Er nimmt den Leser mit, zeigt auf, dass sich, trotz der 9 Monate Prozess, nur wenig neue Erkenntnisse zur Tatnacht und zu den Vorbereitungen der Pariser Terrorzelle ergeben. Hauptsächlich auch, weil der einzig überlebende Attentäter sich in großem Maße ausschweigt. Unter anderem das, erklärt Carrère, habe den Fokus des Prozesses und der Prozessberichterstattung von Beginn an verschoben:
„Die Menschen, die sich für Prozesse interessieren, interessieren sich in erster Linie für die Angeklagten. Die Opfer betrauert man, aber das ist es dann auch. In diesem Prozess war es anders. Natürlich habe ich mich für die Täter interessiert, aber nicht für den Einzelnen, sondern für den Terroristen im Allgemeinen. Aber die Aussagen der Opfer, das war das Berührende, sie haben diesem Prozess seinen Tonfall gegeben.“
Ab 26. August 2023 gibt es das Buch als Hörspiel auf SWR2.de und in der ARD Audiothek
Fokus auf die Hinterbliebenden
Den Überlebenden, Hinterbliebenen und ihren Aussagen widmet Carrère deswegen auch den größten und stärksten Teil seines Buches. Unkommentiert reiht er eine Zeugenaussage an die nächste: Maia, die die Liebe ihres Lebens und zwei ihrer besten Freunde auf der Terrasse der Pariser Bar Le Carillon verloren hat, die selbst so schwer verletzt wurde, dass sie nicht einmal zur Beerdigung ihres Mannes, ihrer Freunde gehen konnte, die sagt: „Wir waren fünf und jetzt sind wir noch zwei“. Aristide, der die Schüsse überlebt hat und nicht versteht, warum junge Menschen auf andere junge Menschen schießen oder Marilyne, die dem Gericht ein kleines Plastikröhrchen zeigt. Darin, die 18 Millimeter langen Metallsplitter, die man ihr aus der Wange operiert hat. Das Röhrchen sagt sie, trage sie immer bei sich.
„Der Rest des Lebens scheint weit weg. Ein Abendessen mit Freunden wirkt fehl am Platz. Mit dem Fortschreiten des Prozesses schläft man immer schlechter, man hat Alpträume, abends, wenn man zuhause sitzt, kommen einem plötzlich die Tränen. Und Gott weiß, ich weine nicht oft“
Schreibt Carrère. Die Brutalität und Grausamkeit der Anschläge vom 13. November, sie ist allgegenwärtig und bewegt sich am Rande des Erträglichen. Und trotzdem steht sie nicht allein im Vordergrund, genauso wenig wie die winzigen neuen Erkenntnisse, die der Prozess ans Licht brachte und wie das Urteil: Lebenslange Haft und anschließende lebenslange Sicherungsverwahrung für den einzig überlebenden Attentäter Salah Abdeslam und lange Gefängnisstrafen für einen Großteil der Angeklagten. In den Medien wurde das viel diskutiert.
Urteil ist nicht der Schlusspunkt
Für den Prozessbeobachter Carrère aber spielt es schon eine halbe Stunde nach der Verkündung kaum noch eine Rolle. In seiner Erzählung setzt nicht das Urteil den Schlusspunkt zu V13. Es ist der Abschied. Denn Carrère beschreibt, wie aus den Überlebenden und Hinterbliebenen, den Anwälten und Journalisten im Laufe des Prozesses, durch das Reden, das Zuhören, das Mitfühlen eine Gemeinschaft wurde:
„Als hätten wir eine 9 monatige Reise auf einem großen Schiff gemacht. Und wir sind dann im Hafen angekommen. Der Prozess ging zu Ende und es war klar, die Justiz hat ihre Arbeit gemacht. In diesem Moment fiel eine unbeschreibliche Anspannung von uns allen ab – und wir konnten gehen. Für uns alle war das ein überwältigender Moment.“
V13 ist daher nicht bloß eine juristische Chronik, eine Prozessbeobachtung, wie es der Untertitel des Buches vermuten lässt. Es ist der intime Einblick in die Gefühlswelt all derjenigen, die diesen Jahrhundertprozess Tag für Tag begleitet haben.