67 Menschen von über 30.000, die zur Schlucht Babyn Jar laufen, mit dem Wissen, dass sie dort in Kyjiw von der Wehrmacht erschossen werden – diesen 67 Menschen gibt die ukrainische Autorin Marianna Kijanowska in ihrem Gedichtband „Babyn Jar“ eine Stimme. Sie schreibt damit über das größte Einzelmassaker im Holocaust – ein Massaker, das lange verschwiegen wurde.
Da ist die Stimme eines Kindes, das sich an Kirschkern-Weitspucken mit seinem Bruder erinnert. Die Stimme eines jungen Mannes, der über seine Zukunft nachdenkt: Er möchte Vater werden, am liebsten zwei Kinder. Es sind Stimmen von ganz verschiedenen Menschen, aber ihr Schicksal ist das gleiche:
Massaker von Babyn Jar wurde lange verschwiegen
67 Gedichte hat die ukrainische Lyrikerin Marianna Kijanowska geschrieben – 67 Stimmen, von Menschen auf dem Weg nach Babyn Jar. Eine Schlucht in Kyjiw. Dort erschossen Wehrmachtssoldaten mithilfe von lokalen Helfern mehr als 33.000 jüdische Kinder, Frauen und Männer im September 1941.
In der Sowjetunion wurde das Massaker von Babyn Jar verschwiegen. Ein Grund: Der Sieg im Zweiten Weltkrieg sollte der Sieg eines homogenen Sowjet-Volkes sein, sagt die Übersetzerin Claudia Dathe. Der Tod von Juden hatte in dieser Erzählung keinen Platz. Für Marianna Kijanowska sei dieses Verschweigen der zentrale Ausgangspunkt ihrer Gedichte.
„Wir haben mit dem Verschweigen große Teile unserer jüdischen Geschichte ausgeblendet und sie ist einfach nicht mehr präsent“, sagt Claudia Dathe. „Sie zirkuliert nicht mehr. Das Verschweigen ist mehr als ein ‚in dem Moment nicht sagen‘, sondern es hat im kulturellen Gedächtnis enorme Folgen.“
Ein Bewusstseinsstrom, der die Gewalt unerträglich nahebringt
Diesem Schweigen setzt Marianna Kijanowska die Stimmen von 67 Menschen entgegen. Es sind fiktive Personen, deren Gedanken sie in Poesie fasst. Dabei verschwimmen die Zeitebenen. Erinnerungen treffen auf Wünsche an die Zukunft, während der nächste Vers schon die Schrecken des Massakers beschreibt. Ein Bewusstseinsstrom, der die Gewalt oft unerträglich nahebringt.
„Dieser Gang in den Tod ist eben auch eine körperliche Erfahrung“, erklärt Claudia Dathe. „Es bedeutet, Menschen treffen aufeinander. Es gibt eine große körperliche Enge. Eine Konfrontation mit der Gewalt, dem Blut. Das ist alles sehr unangenehm, aber ganz wichtig, dass Kijanowska diese körperliche Enge in ihren Gedichten thematisiert. Es sind keine metaphysischen Gedichte, die sich nur in einer Vorstellungswelt vollziehen, sondern das Körperliche hat hier auch einen Raum.“
Sprache spiegelt Gang in den Tod
Und das zeigt sich auch in der Sprache: Atemlos klingen die Gedichte. Sätze reißen ab, werden unterbrochen. Im ukrainischen Original sind die meisten Gedichte gereimt und spiegeln so den Rhythmus des Laufens wider. Auf den Reim hat Übersetzerin Claudia Dathe verzichtet. Stattdessen arbeitet sie mit Vokalen und Konsonanten, die sich wiederholen und Klangräume erzeugen.
Den Opfern eine Stimme geben
Marianna Kijanowska hat für ihren Band „Babyn Jar. Stimmen“ den wichtigsten Literaturpreis in der Ukraine bekommen, den Taras-Shevchenko-Preis. Als erste ukrainische Gegenwartsautorin beschäftigt sie sich intensiv mit Babyn Jar. Den Opfern des Massakers gibt sie mit ihrem Gedichtband eine Stimme, genauer 67 Stimmen – und alle sprechen für das Einzigartige jedes Lebens, das in Babyn Jar, im Holocaust, grausam ausgelöscht wurde.
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