Der Romanheld von Stephen Kings neuem Buch „Später“ hat eine besondere Gabe. Jamie Conklin kann die Geister kürzlich Verstorbener sehen und sogar mit ihnen sprechen. Seine Mutter, die Literaturagentin Tia, rettet diese Fähigkeit vor dem sicheren Ruin. Doch der Fortgang der Handlung zeigt deutlich: Dies ist eine Horrorstory.
Gewagte Worte für einen 22-Jährigen, der in Stephen Kings neuem Roman „Später“ seine Lebensgeschichte loswerden will, aber Jamie Conklin hat gute Gründe an den – wie er sagt „flatterhaften Finger des Schicksals“ zu glauben. Wie sonst sollte er sich auch erklären, dass er von klein auf die Geister kürzlich verstorbener Menschen sehen kann. Und nicht nur das, er kann sogar mit ihnen reden.
Jamie kann kürzlich Verstorbene sehen und mit ihnen reden - der typische Stephen-King-Horror
In sein gruseliges Geheimnis weiht er zunächst nur seine Mutter ein. Tia Conklin ist zu Beginn des Romans Mitte dreißig und eine schwer beschäftigte und ebenso schwer fluchende Literaturagentin. Die beiden verbindet ein inniges Verhältnis. Einen Vater gibt es nicht. Jamie weiß nicht mal wer er ist, seine Mutter möchte nicht darüber reden.
So geht es ihr auch bei der Sache mit den Geistern. Sie hofft, ihr Sohn habe nur eine überbordende Fantasie. Nachdem Jamie im Central Park ihr aber genau beschreiben kann, wie das Gesicht des tödlich verunglückten Fahrradfahrers unter der Plane aussieht, sieht sie sich gezwungen, ihm zu glauben.
„Neben ihm stand derselbe Mann mit denselben Fahrradshorts und derselben Knieschiene. Er hatte weiße Haare mit Blut drin. Das Gesicht war genau in der Mitte eingedrückt, wohl weil er damit auf der Bordsteinkante aufgeprallt war. Die Nase war irgendwie in zwei Teilen, der Mund ebenfalls.“
(Stephen King: Später - S. 32)
Jamies Mutter Tia nutzt die Gabe ihres Sohnes für ihre Zwecke
So eine detailreiche Beschreibung denkt sich ein Kindergartenkind nicht mal eben aus, das ist Tia nun klar. Ganz die besorgte Mutter, bläut sie Jamie nachdrücklich ein, niemanden etwas von seiner Gabe zu verraten. Das klappt auch ein paar Jahre, aber dies wäre kein Stephen-King-Roman, wenn es dabei bliebe.
Bevor der Altmeister des Horrors eine fiese Abwärtsspirale skizziert, wiegt er seine Leserinnen und Leser durch ein retardierendes Moment erstmal in Sicherheit. Das Zugpferd in Tias Literaturagentur, Regis Thomas, ist überraschend verstorben. Leider bevor er seinen Bestsellerroman beenden konnte. Wie gut, wenn man da einen Sohn hat, der mit Toten sprechen kann.
In einer Nacht- und Nebelaktion fahren sie zum Anwesen des kürzlich verstorbenen Schriftstellers und treffen seinen Geist tatsächlich auf dem Weg zu seinem Schreibatelier an.
„Er kam auf uns zu, was mich nicht überraschte. Die meisten, wenn auch nicht alle, werden eine Weile lang von lebenden Menschen angezogen wie Mücken von einer Insektenlampe. Es ist zwar furchtbar, das so auszudrücken, aber was anderes fällt mir nicht ein.“
(Stephen King: Später - S. 68)
Die Geschichte wird kompliziert, weil Tias Lebensgefährtin Liz ins Spiel kommt
Glücklicherweise steht dem Verstorbenen Thomas nicht nur der Sinn nach Gesellschaft, er ist auch redselig und diktiert Jamie die komplette Handlung des zu Lebzeiten unvollendeten Romans. Jamie gibt die Infos an seine Mutter weiter und siehe da, das fertige Manuskript kann doch gefunden werden – Literaturagentur gerettet. Ende gut, alles gut – nein natürlich nicht. Denn bei dem Treffen der besonderen Art war auch Tias Lebensgefährtin Liz Dutton dabei.
King lässt der Polizistin die Rolle der Schurkin zukommen, die Jamies Gabe ausnutzt und ihn damit in Lebensgefahr bringt. Weil die vermeintliche Gesetzeshüterin mit Drogen dealt und auch dem Alkohol zu sehr zugeneigt ist, hat Tia die Beziehung beendet.
Jetzt will auch Liz von Jamies Gabe profitieren
Auch Liz‘s Job hängt wegen Korruptionsvorwürfen am seidenen Faden. Um ihr Ansehen bei der Polizei wieder aufzumöbeln, zwingt sie Jamie dazu, einen toten Serientäter nach dem Versteck der letzten Bombe zu befragen. King beweist bei der Beschreibung des Toten, der sich mit einer Pistole das Hirn weggepustet hat, dass er auch im Alter von 73 Jahren keineswegs daran denkt, seine Leserschaft zu schonen.
„Das Loch an der Seite war beinah so groß wie ein Unterteller und von unregelmäßigen Knochenzacken umgegeben. Die Kopfhaut war angeschwollen wie durch eine gewaltige Infektion. Das linke Auge war zur Seite gerissen worden und trat aus der Höhle hervor. Am schlimmsten aber war, dass ihm graues Zeug an der Wange heruntergelaufen war. Das war sein Hirn.“
(Stephen King: Später - S. 126)
Der Geist des Serienmörders verschwindet nicht
Der Mund ist zum Glück heil geblieben und so gesteht Therriault Jamie wo seine letzte Bombe hochgehen soll. Tote müssen im Roman immer die Wahrheit sagen.
Trotzdem läuft die Sache nicht glatt, denn der Geist des Serienmörders wird von etwas Bösem ergriffen. Er verschwindet nicht wie die anderen Toten, sondern verfolgt Jamie von da an. Liz ist das herzlich egal, sie hat, was sie will, und kann durch die Info zum Fundort ihren Job bei der Polizei erstmal retten.
Liz ist die Schurkin - und sie ist hinter Jamie her
Stephen King, der selbst ein Alkohol- und Drogenproblem hatte, zeigt an seinen Figuren eindringlich, welche Wesensveränderungen Süchte bei Menschen hervorrufen können und wie sehr diese ihre Mitmenschen in Mitleidenschaft ziehen. Dies ist eine Horrorstory: Nicht nur der Geist von Therriault ist hinter Jamie her, auch Liz lässt nicht von ihm ab.
„Ich dachte an alles, was ich wegen ihr durchgemacht hatte und zwar nicht nur hinsichtlich Therriault. Das Leben meiner Mutter hatte sie ebenfalls auf den Kopf gestellt. Liz Dutton hatte uns beiden eine schlimme Zeit beschert, und da war sie wieder. Eine üble Type, die genau dann auftauchte, wenn man sie am wenigsten erwartete.“
(Stephen King: Später - S. 221)
Ein solider Horrorroman, aber stellenweise etwas zu langatmig
Der Schrecken beim Lesen kommt in dem rund 300 Seiten starken Werk also verlässlich wieder. Alles in allem legt King mit „Später“ einen soliden Horrorroman vor, der Fans des Genres und besonders Fans des Autors gefallen sollte. Das liegt nicht zuletzt an den wiederkehrenden Motiven und Anspielungen aus bisherigen King-Werken.
Jedoch ist der Roman an der ein oder anderen Stelle etwas zu langatmig geraten. Damit verspielt der Schriftsteller die Chance, seine Leserinnen und Leser auf etwas subtilere Art zu erschrecken