Pjotr Nesterenko und der Tod sind enge Vertraute: Als Leiter des ersten Moskauer Krematoriums begegnet er ihm ohne Unterlass und in nahezu jeder erdenklichen Form. Tagsüber verbrennt er die einfachen Bürger und in der Nacht die politisch Verfolgten. In Zeiten des Stalinistischen Terrors kommt da ein gewaltiges Pensum zusammen. Allein 1937 werden mehr als hunderttausend Menschen nur wegen des Verdachts auf pro-polnische Umtriebe zum Tod verurteilt. Vier Jahre später erklärt Deutschland der Sowjetunion den Krieg, und abermals werden potentielle Spione verhaftet – unter ihnen schließlich auch Pjotr Nesterenko.
Ebendieser Nesterenko hat wirklich existiert. Mit Hilfe der Menschenrechtsorganisation Memorial, die in Russland mittlerweile zerschlagen wurde, bekam der belarussische Autor Sasha Filipenko Zugang zu Pjotr Nesterenkos Akte und konnte die Verhörprotokolle aus dem Jahr 1941 lesen. Sie sind zum Teil wörtlich in seinem Roman abgedruckt und zeigen Nesterenko als gewieften Mann, der um keine Ausrede und Geschichte verlegen ist, um seinen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Suspekt machen ihn vor allem seine adelige Herkunft und die Tatsache, dass er erst auf Seiten der Kaiserlichen und dann der Weißen Armee gedient hat. Letztere kämpfte im Russischen Bürgerkrieg bis 1922 gegen die Bolschewisten. Als Emigrant flüchtete Nesterenko später durch halb Europa und kehrte schließlich in die Sowjetunion zurück. Dass er das erste Krematorium in Moskau ausgerechnet mit Hilfe deutscher Experten aufgebaut hat, macht ihn Jahre später in den Augen der Geheimdienstoffiziellen noch verdächtiger.
Gerade weil er über weite Strecken einer Dokumentation gleicht, liest sich Sasha Filipenkos Roman mit ungeheurer Spannung. Er hält fest, welche Unterlagen im Zuge der Verhaftung beschlagnahmt werden, unter anderem fast 200 Seiten persönliche Korrespondenz, und er fügt auch zwei Fotos des realen Pjotr Nesterenko bei. Zwischen den Verhörpassagen finden sich – von Filipenko erfundene – Gedanken und Tagebuchaufzeichnungen Nesterenkos. Sie verleihen seinem Protagonisten eine Stimme abseits der Befragungen, bei denen jedes Wort sorgsam abgewogen werden muss. Während er im Verhör jede Station seiner militärischen Laufbahn offenlegen muss, würde Nesterenko seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg am liebsten vergessen. Denn in Erinnerung hat er den Krieg vor allem als Triumph des Todes.
Diese Gedankengänge und Verhörprotokolle lesen sich beklemmend aktuell. So wird in den strengen Fragen des Geheimdienstbeamten deutlich, dass in Diktaturen Geschichte oft nur auf eine bestimmte Weise erzählt werden darf – in diesem Fall mit Bezug auf den Klassenkampf. Einer solchen Vereinnahmung der Geschichte stellt sich der Roman entgegen, etwa wenn Nesterenko betont, dass zu Zeiten des Russischen Bürgerkriegs nicht nur reiche Fabrikanten und Fürsten das Land verließen, sondern auch ganz gewöhnliches russisches Volk.
Auch wenn die historische Tragweite des stalinistischen Terrors in Filipenkos Roman unmittelbar deutlich wird, die menschliche Tragik seiner Geschichte erschließt sich erst spät. Das liegt vor allem an der Erzählweise des Romans. Denn in den Protokollen, die Filipenko literarisch verarbeitet, ist Nesterenko gezwungen, auf Zeit zu spielen und um den heißen Brei herumzureden. An vielen Stellen ist das aber etwas zu gewitzt erzählt, um das menschliche Leid hinter den Aussagen wirklich greifbar zu machen. Außerdem bleibt über weite Strecken unklar, wer die Frau ist, die Nesterenko liebt und in seinen Gedanken immer wieder anspricht. Ihr Schicksal offenbart sich allerdings erst auf den letzten Seiten des Romans. Trotz dieser erzählerischen Schwäche ist Kremulator ein packendes Buch, dass es versteht, die großen Linien der Geschichte aufzuzeigen. Gerade Pjotr Nesterenkos Bemerkungen zur Sowjetunion und ihrer Geschichte machen deutlich, in welch schauriger Tradition das heutige Russland steht.
Aus dem Russischen von Ruth Altenhofer
Diogenes Verlag, 256 Seiten, 25 Euro
ISBN 978-3-257-07239-6