Erzählen zwischen Traum und Wirklichkeit – das war das literarische Projekt des großen chilenischen Autors Roberto Bolaño. Dabei trat er in seinen Romanen unter leicht zu entschlüsselnden Pseudonymen auch gerne höchstpersönlich auf.
Jetzt sind drei Erzählungen aus dem Nachlass erschienen, die sein Werk komplettieren. Dieses Mal geht es um die „Cowboygräber“ der Vorfahren, um den Putsch gegen Salvador Allende 1973 und um einen Telefonanruf bei André Breton. Bewusstseinserweiternd!
Der Roman „2666“ machte Bolaño zur neuen Stimme der lateinamerikanischen Literatur
Als der chilenische Schriftsteller Roberto Bolaño 2003 mit nur fünfzig Jahren in seinem spanischen Exil verstarb, war er durch eine Reihe von Gedichtbänden und Romanen vor allem einem literarisch interessierten Publikum bekannt.
Doch dann erschien posthum sein umfangreicher Roman „2666“ und machte ihn weltberühmt. Er gilt als neue Stimme in der lateinamerikanischen Literatur und überzeugt durch seine facettenreiche, von Assoziationen und einem poetischen Grundton getragene Prosa.
Bolaño nennt seine Art des Erzählens „Fabulieren“
Die drei zuletzt aus dem Nachlass herausgegebenen Erzählungen aus den 1990er Jahren und der Zeit unmittelbar vor seinem Tod unterstreichen Bolaños virtuose Auseinandersetzung mit den Problemen und Eigenheiten Lateinamerikas, aber auch sein nie nachlassendes Interesse an der europäischen Literatur.
Der chilenische Autor Roberto Bolaño liebte das „Fabulieren“, wie er seine Art des Erzählens einmal nannte. In all seinen insgesamt viele tausend Seiten umfassenden Romanen und Erzählungen ist ihm die Vermengung von Realität und Fiktion zum Programm geworden.
Die Erzählungen verknüpfen Phantastisches mit biographischen Elementen
Auch der neueste aus dem Nachlass herausgegebene Band mit dem Titel „Cowboygräber“ versammelt drei Erzählungen, in denen sich viel Phantastisches, aber auch viele Details aus Bolaños Biographie aufspüren lassen.
Die erste Erzählung „Cowboygräber“ berichtet vom Umzug des fünfzehnjährigen Arturo Belano, als den sich Roberto Bolaño in vielen seiner Schriften ausgibt, von Chile nach Mexiko.
Der chilenische Süden spielt in den Erzählungen eine entscheidende Rolle
Wie diese Sätze aus dem Anfang der Erzählung „Der Flughafen“ sind fast alle Texte Bolaños von enormer Vielschichtigkeit und von abrupten Themenwechseln durchzogen.
Wichtig sind für Arturo die Erinnerungen an Aufenthalte auf dem Land im chilenischen Süden. Dort ist er zusammen mit seinem Vater auf einem Landgut eingeladen.
Wechselhafte Stimmungen bestimmen die Dialoge
Die von wechselnden Stimmungen durchzogenen Erinnerungen bestimmen auch die Gespräche mit dem Vater während des Ausritts.
Arturo fragt nach seinen Großeltern, nach seiner Herkunft, und muss erfahren, dass sein Großvater ein einfacher „Cowboy“ war und seine Großmutter sogar ein „Cowgirl“.
Arturo wird bewusst, dass er mit seinem Aufbruch nach Mexiko diesen Stammbaum seiner Familie und ihre „Cowboygräber“ verlassen wird. Zwar sagt er einmal: „Ich bin in Chile geboren und habe mein Leben lang in Chile gelebt“, doch bezieht sich dies – wie bei Roberto Bolaño selbst – auf die ersten fünfzehn Jahre seines Lebens.
Seine Verhaftung war für Bolaño ein Schlüsselmoment, der immer wieder Thema wird
Danach hat der Autor erst fünf Jahre später wieder seine Heimat betreten: Ausgerechnet in jenem politischen Herbst 1973, als General Pinochet die sozialistische Regierung Salvator Allendes gewaltsam stürzte.
Viele Intellektuelle wurden verhaftet, auch Bolaño, den man aber schon nach einer Woche wieder auf freien Fuß setzte. Gleichwohl hat sich dieses Erlebnis so tief in seine Erinnerung eingeprägt, dass er in seinen Schriften in verschiedenen Versionen immer wieder darauf zurückkommt.
Auch der zweite Text handelt vom pseudonymisierten Bolaño
Eine davon enthält der zweite Prosatext in dem Band „Cowboygräber“ unter dem Titel „Vaterland“. In 19 episodischen Kurztexten geht es diesmal nicht um Arturo, sondern um „Rigoberto Belano“, wiederum ein Pseudonym des Autors. Am Tag des Putsches befindet er sich bei einer Art linksgerichteter Landkommune.
Die ersten beiden Erzählungen liefern jedoch wenig Neues
Die auf diese Passage folgenden ländlichen Szenen sollen zeigen, wie die Nachricht vom Putsch jenseits der Hauptstadt Santiago aufgenommen wird. Es gibt einen Bericht über Inhaftierte in einer Sporthalle, eingestreute Träume und Liebesszenen mit einer gewissen Patricia Arancibia.
Die Entstehungszeiten der beiden ersten „Cowboygräber“-Erzählungen verlaufen parallel zu der Konzeption anderer Bücher, insbesondere zu der des Romans „Die Wilden Detektive“ von 1998, der wegen seines geradezu artistischen Umgangs mit der Vermischung von Realität und Fiktion große Beachtung findet. „Cowboygräber“ und „Vaterland“ bieten also nicht wirklich Neues.
Die Überraschung lauert in der dritten Erzählung
Die dritte bislang unveröffentlichte Erzählung hingegen mit dem seltsam klingenden Titel „Komödie vom Schrecken von Frankreich“ hält eine Überraschung bereit.
Sie stammt aus dem letzten Lebensjahr Bolaños und beginnt damit, dass eine Gruppe von Leuten in einem Strandcafé an der Küste Französisch Guyanas eine totale Sonnenfinsternis miterlebt.
Die biographischen Elemente entfallen gänzlich
Der Erzähler ist diesmal ein gewisser Diodoro Pilon, ein siebzehnjähriger angehender Dichter aus der Riege von Roger Bolamba, in dem wieder unschwer ein weiteres Alter Ego Bolaños zu erkennen ist.
Die Übertragung der Schein-Autorenschaft auf einen poetischen Mitstreiter der Gruppe ist nun insofern interessant, als Bolaño in dieser Prosa ausnahmsweise sein Realitäts-Fiktions-Spiel verlassen darf.
Er war nie in Französisch Guyana. Quasi befreit von der Verantwortung der eigenen Erinnerung gegenüber, kann er nun wirklich einmal eine Geschichte erzählen, ohne unmittelbar selbst darin verwickelt zu sein.
Was die Intention Bolaños dahinter war, bleibt unklar
So lässt er Diodoro ein absurdes Telefongespräch mit dem französischen Autor André Breton führen. Diodoro soll dessen „surrealistischer Untergrundliga“ beitreten, die in der Kanalisation von Paris lebt und schreibt.
Vielleicht wollte Bolaño damit seine Überzeugung von der subversiven Kraft der Literatur zum Ausdruck bringen. Vielleicht aber auch seinen Respekt vor einer künstlerischen Strömung, die schon vor knapp hundert Jahren die Vermischung von Erinnerungs- und Phantasiewelten zu ihrem literarisch-künstlerischen Programm erhoben hat.
Eine meisterhaft komponierte Erzählung versetzt den Leser in die wahre Realität
Gegenüber den ersten beiden Erzählungen der „Cowboygräber“, die viele von Bolaños literarischen Auseinandersetzungen mit sich und seiner Zeit lediglich durch einige Details ergänzen, wird die Geschichte von der „Komödie des Schreckens“ zu einem Muss nicht nur für Bolaño-Leser.
Ausnahmsweise kommt der Autor hier einmal ohne seine Fabulierkunst und pseudobiographisches Versteckspiel aus, sondern versetzt uns in einer meisterhaft komponierten Erzählung in die von André Breton angestrebte Aufhebung von „Traum und Wirklichkeit“ in die einzig wahre Realität, in das surreale Reich der Literatur.