Ein alter Hochschullehrer versteht während einer Autopanne in der Wüste endlich die Liebe. Eine todkranke Musikerin fährt mit dem Taxi durchs Berlin ihrer Kindheit. Und in einem Keller, in einer gar nicht so weit entfernten Vergangenheit, bringt ein Henker alle um, die auf Stalins Todeslisten stehen.
In Ralf Rothmanns neuen Erzählungen geht es immer um große Themen. Um existentielle Ängste, um Leben und Tod, um die Liebe und die Freiheit. Sprachlich auf höchstem Niveau und mit präzisem Spannungsbogen zeigt hier einer der wichtigsten deutschen Gegenwartsautoren, dass er die kurze Form genauso gut beherrscht wie die lange.
Diese Erzählungen erschüttern, berühren und bleiben lange im Kopf. Großartig!
„Meine Sprache hat nur dann Schwerkraft, wenn ich aus meinen Erfahrungen spreche“, hat Ralf Rothmann einmal gesagt.
Immer wieder betont der 1953 geborene und mit vielen Preisen bedachte Schriftsteller, dass die eigene Biografie eine wichtige emotionale und ästhetische Grundierung seiner Literatur bildet.
Die bunten Lebens- und Arbeitswelten Rothmanns tauchen in seinen Erzählungen auf
Tatsächlich kann dieser Autor auf einen Erfahrungsschatz zurückgreifen, der einmalig ist in der deutschen Literaturlandschaft: Nach dem Besuch der Handelsschule machte er eine Lehre als Maurer, später schlug er sich mit verschiedenen Jobs durchs Leben.
Er arbeitete als Fahrer, Koch, Drucker und Krankenpfleger. Und diese Lebens- und Arbeitswelten tauchen auch in Rothmanns Romanen und Erzählungen auf – so auch in seinem neuen Geschichtenband „Hotel der Schlaflosen“.
Sprachliche und dramaturgische Präzision prägen die Prosaerzählungen
Erzählungen sind für Ralf Rothmann weder Fingerübungen noch literarische Pausenfüller zwischen den großen Romanen. Dieser Schriftsteller beherrscht die kurze Prosastrecke wie kaum ein deutscher Autor.
Auch im „Hotel der Schlaflosen“ beeindruckt Rothmann mit sprachlicher und dramaturgischer Präzision, ohne die Figuren durch eine allzu gewitzte Erzählökonomie zu verraten.
Die Figuren werden von Ängsten heimgesucht
Meist stehen die Charaktere am Abgrund, weil sie zum Beispiel sterbenskrank sind wie die Protagonistin in der ersten Geschichte. Eine Musikerin fährt nach einem Konzert noch einmal im Taxi durch das Berlin ihrer Kindheit und erinnert sich an die skurrile Situation, als sie auf die Diagnose wartete.
Schließlich sehnt sie sich nach einem Ende des Leidens:
Rothmanns sanft-schaurige Poesieprosa handelt vom Aberwitz des Daseins und von Ängsten, die selbst hartgesottene Charaktere heimsuchen.
Es geht in diesen Geschichten immer um alles: um Leben und Tod, verfehlte Liebe und der Sehnsucht nach Freiheit. Aber auch um Verantwortung für Taten, die alle Menschlichkeit in Fragen stellen.
Die Charaktere in Rothmanns Erzählungen sind unglaublich vielseitig
Dabei entwickelt Rothmann so unterschiedliche Figuren in so verschiedenen Settings, dass man kaum glauben kann, es mit nur einem Schriftsteller zu tun zu haben. Einmal sind wir auf einem Pferdehof, mal auf einer Baustelle, mal unter Bestattern.
Ein Kind wird mit dem Teppichklopfer verhauen, dann wieder lässt sich eine Anhalterin nicht davon abbringen, durchs wilde Mexiko zu trampen. Ich-Erzählungen wechseln sich mit Texten in der dritten Person ab.
In den Erzählungen spielt die Stimmung eine entscheidende Rolle
Jedes Stück ist von einer sehr eigenen, mal melancholischen, dann erstaunlich überdrehten Stimmung geprägt. Waren wir in der Eröffnungsgeschichte noch im Hier und Jetzt, spielt die Titelerzählung fast ein Jahrhundert früher in Moskau, in der Zeit der großen Säuberungen.
Im Keller eines ehemaligen Hotels waltet ein Henker seines Amtes. Er bringt alle um, die auf irgendwelchen Listen Stalins stehen und nun in diesem „Hotel der Schlaflosen“ auf ihre Hinrichtung warten.
Rothmann hält den Menschen den Spiegel der Tierwelt vor
In gewisser Weise sind alle Geschichten Horrorstorys, wobei das Grauen mal real, dann wieder hyperreal dargestellt wird. Die Gewaltverhältnisse unter den Menschen zeigen sich wie so oft bei Rothmann im Spiegel der Tierwelt.
In der Erzählung „Admiral Frost“ geht es um einen heißblütigen Hengst, der eine Stute decken soll, und dieser Akt wird auf eine Weise beschrieben, die man nicht mehr vergessen wird.
Die Geschichten sind gerade wegen Rothmanns biographischen Einflüssen berührend
Beobachtet wird die Szene, die den Auftakt für ein todbringendes Ausrasten des mächtigen Tiers darstellt, von der Tochter eines Pferdewirts, der sich von seiner Frau getrennt hat und befürchten muss, bald auch seine Ranch zu verlieren.
Die große Faszination fürs Reiten jedenfalls zertrümmert diese Geschichte, die ganz nebenbei auch erstaunliche Einblicke in das skurrile Milieu der Pferdefans bietet.
Erschütternd und berührend sind Rothmanns Erzählungen, die mit wichtigen biographischen Erfahrungswelten und Werkphasen des Autors in Verbindung stehen, mit den Ruhr-Romanen, mit den Berlin-Büchern und Kriegsgeschichten.
Die Motive der einzelnen Erzählungen passen perfekt zusammen
Das „Hotel der Schlaflosen“ enthält tatsächlich Meisterstücke kurzer Prosa, auch weil die einzelnen Stücke auf der Ebene der Motive und Metaphern auf bedrohliche und zugleich kaum merkliche Weise miteinander kommunizieren.
Schlaflosigkeit und Angstzustände prägen die Lebensläufe. Die Rollen vor allem der männlichen Figuren wirken wie aus der Zeit gefallen und dabei schrecklich modern.
Selbst den dunkelsten Szenen wohnt Hoffnung inne
Verprügelte und mordende Typen, enttäuschte Träumer und revoltierende Statisten. Wann endlich, so fragen diese Geschichten, erfinden wir ein neues Miteinander?
Der bittere Konkurrenzkampf prägt auch die weiblichen Rollenmuster, die einen Gendergap nicht erkennen lassen. Selbst den rabiatesten Szenen aber wohnt, sozusagen als Antwort auf die allgegenwärtige Angst, doch jene Hoffnung inne, dass es anders laufen könne, dass die Gewalt eben kein Naturgesetz ist.