Mit dem bewegenden Roman „Die Nacht unterm Schnee“ knüpft Ralf Rothmann an seine Bestsellerwerke „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ an. Im Mittelpunkt der erneut familienbiografisch grundierten Geschichte steht das Landarbeiterkind Elisabeth, das am Ende des Zweiten Weltkriegs von marodierenden Soldaten vergewaltigt wird und nach 1945 atemlos nach Selbstbestätigung und schnellen Glücksmomenten sucht.
Elisabeths Sohn blickt mit trauriger Ratlosigkeit auf das Leben der Mutter zurück
Der Roman beginnt mit einem Rückblick: Das sechzehnjährige Landarbeiterkind Elisabeth flieht im „Winter vor dem Ende des letzten Krieges“, wie es in den ersten Zeilen heißt, aus dem zerbombten Danzig über das tiefverschneite Land in eine ungewisse Zukunft.
Das Mädchen fiebert, sitzt mit den entkräfteten Männern des Volkssturms im zugigen Führerhaus eines klapprigen Transportwagens. Sie träumt von Milch, einem Schloss und einem Prinzen. Die alles andere als märchenhafte Fahrt gen Westen aber ist schon bald wieder vorbei. Wo Elisabeth landet, erfahren wir erst später, wobei völlig klar ist, dass ihr Wunschtraum nicht in Erfüllung gehen wird.
So überrascht es auch nicht, wenn im folgenden Kapitelanfang, der Jahrzehnte später, nämlich nach dem Tod Elisabeths angesiedelt ist, ihr Sohn mit trauriger Ratlosigkeit auf das Leben der Mutter zurückblickt.
„Ihr war kaum zu helfen, fürchte ich, und vielleicht können Menschen mit einer besonders schmerzhaften Vergangenheit ja nicht anders: Sie betäuben sich in jedem Augenblick neu, und sei es mit Arbeit, denn sie wissen, dass sie mehr oder weniger verloren sind für das Künftige, das ungeachtet aller bösen Erfahrungen unser Zutrauen braucht, um zu gelingen.“
(Aus Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee)
Die Arbeit an der familienbiografischen Trilogie kann dem Autor nicht leichtgefallen sein
Diese Zeilen schreibt Wolf, der erwachsene Sohn Elisabeths und Walters, an Luisa, die Freundin der mittlerweile verstorbenen Eheleute, und kaum sind die Namen im Text gefallen, werden sich Leserinnen und Leser der beiden vorangegangenen Kriegs- und Nachkriegsromane Ralf Rothmanns an die Schicksale der Figuren erinnern, vielleicht erst bruchstückhaft, dann aber immer klarer.
Die Arbeit an der familienbiografischen Trilogie, die von wiederkehrenden Gewalterfahrungen handelt, kann dem Autor nicht leichtgefallen sein: Rothmann hat sich Zeit genommen, vor dem Buch über das Leben der Mutter noch einen Erzählband herausgegeben – als brauche er noch etwas Abstand, um die Geschichte dieses so widersprüchlichen Menschen angemessen zu beenden.
Tatsächlich ist es auch ratsam, auf dem vorgegebenen Erinnerungspfad zu bleiben, also „Im Frühling sterben“ zuerst zu lesen und von Walters düsterer Vergangenheit zu erfahren, die in den Folgebüchern nur angedeutet wird. Für das Verständnis der Geschehnisse sind nicht nur die Abgründe dieses Charakters zentral, auch die Kenntnis von Luisas Kriegsjugend, die in „Der Gott jenes Sommers“ dargestellt wird, erleichtert die Lektüre des neuen Romans.
Wir nähern wir uns Elisabeth vor allem aus der Perspektive ihrer Freundin Luisa
Abgesehen von den kurzen Briefpassagen des Sohnes und den regelmäßig eingestreuten Kriegsszenen, die in der dritten Person gehalten sind, nähern wir uns Elisabeth in „Die Nacht unterm Schnee“ vor allem aus Luisas Perspektive. Sie ist beeindruckt von der selbstbewussten Freundin, erkennt aber auch ihre tiefen Verletzungen, etwa wenn sie zusammenzuckt, sobald ihr betrunkene Männer in Uniform entgegenkommen.
„Aber letztlich kompensierte sie ihre Angst durch Frechheit oder besser, sie täuschte sich mit Frechheit über ihre Angst hinweg. Dabei hatte sie eine Schwäche für die Matrosen in den weißen Ausgehblusen und den blankpolierten Schuhen.“
(Aus Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee)
Es gehört zur Paradoxie Elisabeths, dass sie ausgerechnet jene Leute anhimmelt, die sie an schlimmste Zeiten erinnern. Russische Soldaten haben sie in einem düsteren Holzverschlag mehrfach vergewaltigt. Schwer verletzt konnte sie den Peinigern entkommen. Ein anderer Russe hat sie dann in einem unterirdischen Versteck wieder aufgepäppelt. Sie überlebte, auch wenn sie in manchen Nächten unterm Schnee sich den Tod wünschte.
Nach der Vergewaltigung durch russische Soldaten gibt es keine Balance mehr in Elisabeths Leben
Seitdem gibt es keine Balance mehr in ihrem beschädigten Leben. Nahezu glücksgierig wirkt sie nach dem Krieg, versucht kein Amüsement auszulassen, als habe sie den immerwährenden Spaß als eine Art ausgleichende Gerechtigkeit verdient. Doch immer wieder bricht sie zusammen, begeht einen Suizidversuch, und zwar ausgerechnet in den Räumen ihrer Arbeitgeberin.
Elisabeth kellnert im Marinekasino am Kieler Hafen, das schon bald zur Kantine des neuen Sozialministeriums umgebaut und von Luisas Mutter bewirtschaftet wird. Dort lernt sie auch Walter kennen, wird ihn nach langer Verlobungszeit heiraten, ihm sogar auf einen Bauernhof mit kräftezehrender Milchwirtschaft folgen, obwohl sie lieber in der Stadt bleiben würde.
„(…) und darin lag schon der Kern der Enttäuschung, ja des Dramas, auf das die beiden hinlebten. Denn Walter, ursprünglich aus dem Ruhrgebiet, wollte nirgendwo anders sein als auf einem abgelegenen Gehöft auf dem Land.“
(Aus Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee)
Statt gemeinsam über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen, wählen die Eheleute den Weg der Verdrängung
Immer wieder betrügt Elisabeth ihren gutmütigen und schwer schuftenden Mann, der durchaus etwas ahnt, sich aber nicht beschwert. Es ist eine lieblose Ehe zweier trostloser Menschen, die sich doch brauchen. Vielleicht hätte es dem unglücklichen Paar geholfen, gemeinsam über die Erlebnisse im Krieg zu sprechen. Beide wählen den Weg der Verdrängung, unter dem nicht nur der gemeinsame Sohn Wolf leiden wird.
Luisa schildert die Irrwege ihrer Freundin durchaus mit Verständnis, steht aber keineswegs loyal an ihrer Seite. Seit Kindertagen hegt sie selbst Gefühle für den zupackenden und gutaussehenden Walter, und als sich endlich die Chance bietet, mit dem Mann ins Bett zu gehen, verhält sie sich nicht besser als die oft kritisierte Freundin.
„Er ließ die Zimmertür ein Stück weit offen, sein Kind, den Daumen im Mund, schlief im schwachen Schein der Nachtischlampe, und ich trat meine Bettdecke weg und rückte zur Seite (…). Alles schien ganz selbstverständlich zu sein und ging fast traumwandlerisch vor sich, als hätte jeder schon lange Recht auf den Körper des anderen.“
(Aus Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee)
Doch der Sex ist weder zärtlich noch befriedigend, und Luisa begreift endgültig, dass sie von Walter ablassen und einen anderen Weg einschlagen muss. Sie wird sich, anders als Elisabeth, von tiefsitzenden Wünschen und eigenen Kriegstraumata emanzipieren.
Der Roman entwickelt sich zu einem großen Panorama der Wirtschaftswunderjahre
Die alten Freunde müssen derweil den Bauernhof verlassen, weil Elisabeth von der Gutsherrin des Diebstahls bezichtigt wird. Walter kehrt zurück ins Ruhrgebiet, obwohl er in seiner Heimat nicht mehr wohnen wollte. Doch die Arbeit im Bergbau wird ordentlich bezahlt, und Walter ist die Maloche auch recht, weil er sich und sein Leid unter Tage verstecken kann. Elisabeth beschwert sich zwar bei jeder Gelegenheit über den Ruß in der Luft, verbringt die Nächte aber gerne in verrauchten Tanzlokalen.
Luisa besucht die beiden nur noch selten, auch weil sie in ihren unglücklichen Rollen erstarrt sind. Der Roman, der zunächst die unterschiedlichen Versuche der kriegstraumatisierten Protagonisten beschrieb, sich in der neuen Friedensordnung zurechtzufinden, entwickelt sich schon bald zu einem großen Panorama der Wirtschaftswunderjahre.
Es sind die sprachlichen Details, die den Roman zu einem gelungenen Abschluss der Trilogie machen
Als Elisabeth sich einer Krebsbehandlung unterziehen muss, spricht der Sohn von einer „Schmerzbestrahlung“. Mit diesem einen Begriff kann das Leben der Mutter trefflich beschrieben werden. Es sind ohnehin die sprachlichen Details, die den Roman zu einem gelungenen Abschluss der Trilogie machen. Ralf Rothmann hat in den beiden vorangegangenen Teilen oft mit surrealistischen Szenen sowie mit Bezügen in die Geschichtsbücher vergangener Kriege gearbeitet.
„Die Nacht unterm Schnee“ ist deutlich zurückhaltender, was die Wahl der ästhetischen Mittel anbelangt. Rothmann konzentriert sich auf die „kleine wilde Mutter“, die über sich selbst einmal sagt: „Die Sehnsucht verändert die Moleküle.“ Irgendetwas im Innersten dieser Frau ist wirklich mutiert, vermutlich weniger wegen unerfüllter Sehnsüchte, sondern vielmehr durch ihre verheerenden Kriegserfahrungen. Unfassbar, dass diese Frau, statt aus dem Leid zu lernen, ihren Frust an den Nachwuchs weitergibt – womit diese Figur gewiss stellvertretend für eine ganze Müttergeneration steht.
„In der Kindheit prügelte sie uns bei jeder Gelegenheit; sie schlug Kochlöffel auf uns kaputt, wobei es meistens um nichts ging, um einen Grasfleck auf der Sonntagshose, um verschüttete Milch. Jede Lappalie war ihr willkommener Anlass, um ihrem geheimen Schmerz krachend Luft zu machen (…).“
(Aus Ralf Rothmann: Die Nacht unterm Schnee)
Schuldlos schuldig werden: ein Thema, das sich durch die gesamte Trilogie Rothmanns zieht
Viele Romanpassagen, die stumpfe Gewaltexzesse beschreiben, auf dem Schlachtfeld und in der Familie, erinnern an Russlands barbarischen Krieg gegen die Ukraine. Die vielen Toten, Verletzten und seelisch Verstümmelten werden ihr Leid wohl wieder den nächsten Generationen vererben. Sie werden schuldlos Schuldige; ein Thema, das sich durch die gesamte Trilogie Rothmanns zieht.
Neben der gesellschaftspolitischen Dimension seiner Prosa, betreibt der Autor immer auch eine literarische Feldforschung. Wie Luisa die Poesie Rilkes nutzt, um sich von der Vergangenheit zu befreien, so hat es Rothmann geschafft, eine biographische Fiktion zu entwickeln, die bewährten Erzählmustern niemals vertraut. Rothmanns so berührendes wie erhellendes Werk zeugt dabei von der heilenden Kraft der Literatur, ohne einen autoritären Wahrheitsanspruch geltend machen zu wollen.
Rothmanns Trilogie ist ein überragendes Gesamtwerk literarischer Geschichtsschreibung
Die zentralen Figuren seiner Familiengeschichte werden in den drei Büchern mit unterschiedlichen Schwerpunkten aus stets verschiedenen Blickwinkeln geschildert. Das Spiel mit den teils widersprechenden Perspektiven auf die Lebensläufe gehört also zum ästhetischen wie politischen Programm dieser immer auch selbstkritischen Prosa. Erst im Zusammenspiel entsteht ein überragendes Gesamtwerk literarischer Geschichtsschreibung.
Ralf Rothmann gab sich im Romankontext den Vornamen Wolf – weil er vielleicht ahnte, dass die literarische Reflexion über die eigene Familie keineswegs die Arbeit eines schreibenden Lamms ist.
Buch der Woche | Corona-Bibliothek Ralf Rothmann – Hotel der Schlaflosen
Ralf Rothmanns neue Erzählungen handeln von Ängsten in der Nacht und dem Aberwitz des Lebens – sie sind Höhepunkt und zugleich Querschnitt eines literarischen Werks von Weltrang.
Suhrkamp Verlag, 205 Seiten, 22 Euro
ISBN 978-3-518-42960-0