Viel ist neuerdings von Verzicht die Rede. Otfried Höffe stellt den Begriff auf ein philosophisches Fundament und beleuchtet diverse Aspekte der Selbstbeschränkung: Der Mensch als Verzichtswesen.
Wie von dem renommierten Philosophen und Kant-Spezialisten nicht anders zu erwarten, geht Otfried Höffe die „Kunst des Verzichts“ sehr grundsätzlich an: anthropologisch, philosophisch, politisch. Leben heißt Verzichten, schon deshalb, weil wir uns in jedem Moment entscheiden und deshalb auf Handlungsalternativen verzichten müssen. Hier hat der Verzicht in den meisten Fällen aber noch nichts Anstrengendes.
Im weiteren Sinn hat Verzicht aber viel damit dazu tun, den Lockungen des Lustprinzips zu widerstehen. Allein die Organisation eines Arbeits- und Familienlebens erfordert vielfache Selbstdisziplinierung. Erst recht, wer eine sportliche, künstlerische oder wissenschaftliche Spitzenleistung erbringen will, muss auf dem Weg dorthin auf viele Vergnügungen und Bequemlichkeiten verzichten – um am Ende solcher Askese womöglich viel größere Freuden zu erleben.
Verzicht als Bedingung des Staates
In der politischen Philosophie ist die Gründung des Staates – da folgt Höffe Thomas Hobbes – ein Akt notwendigen Verzichts. Der Naturzustand wird als Willkürfreiheit gedacht, in der sich die menschliche Natur mit ihren Antrieben der Habgier, des Misstrauens und der Ruhmsucht nach dem Recht des Stärkeren entfalten kann. Um diesen wölfischen Zustand, gipfelnd im Bürgerkrieg, zu mäßigen und zu befrieden, verzichten die Einzelnen auf einen großen Teil ihrer Freiheiten wie etwa der Selbstjustiz und unterwerfen sich dem Gewaltmonopol und den Rechtsnormen des Staates. In der heutigen Demokratie macht sich ein weiteres Prinzip der Selbstbeschränkung geltend: Weil sich niemand anmaßen kann, die Wahrheit zu kennen und das allein Richtige vorzugeben, werden zahlreiche Kontrollmechanismen installiert, die die Herrschaft begrenzen.
In einem Kapitel widmet sich Höffe dem Zusammenhang von Ethik und Lebenskunst, von Aristoteles und der Stoa bis zu Kant und Nietzsche. An allen Tugenden, die er in diesem Zusammenhang erörtert – darunter Besonnenheit, Mäßigung, Klugheit, Tapferkeit und Toleranz – zeigt er die ihnen innewohnenden Verzichtsmomente auf. Tolerant etwa ist derjenige, der gerade weil er eigene Überzeugungen hat, die der anderen achtet – also darauf verzichtet, seine eigenen für verbindlich zu halten.
Aktuelle Aufforderungen zur Mäßigung
Im zweiten Teil seiner „Kleinen Philosophie der Selbstbeschränkung“ bezieht sich Höffe auf aktuelle Probleme und Debatten. So rät er öffentlichen Rundfunkanstalten, staatlichen Institutionen und Forschungseinrichtungen, auf Gendersprache zu verzichten, solange eine deutliche Mehrheit der Bevölkerung diese Sprachpädagogik ablehnt.
Wissenschaftler sollten seines Erachtens darauf verzichten, ihre Hypothesen und Modellrechnungen als unanfechtbare Wahrheiten zu präsentieren – die Beispiele sind hier Covid- und Klima-Alarmismus. Höffe sieht die politisch aufgezwungenen Beschränkungen im Zuge der Pandemie-Politik kritisch. Vielfach seien sie schlecht oder einseitig begründet gewesen und hätten mündige Bürger zu Untertanen degradiert.
Bevölkerungswachstum und Konsum
Verzichten sollten, meint er, vor allem Inder und Afrikaner auf weiteres unkontrolliertes Bevölkerungswachstum; beschränken sollten die Bewohner wohlhabender Länder dagegen ihre unhaltbaren Konsumgewohnheiten. Ohne Wohlstandsverluste werde sich der weltweite CO2-Ausstoß nicht beschränken lassen. Die alte, bekömmliche Tugend der Mäßigung trage hier bei zur weltpolitisch wichtigsten Verzichtsleistung. Im Zusammenhang mit der Bekämpfung des Klimawandels sieht Höffe allerdings auch eine bedenkliche Tendenz zur Ökodiktatur, die schon im „Prinzip Verantwortung“ des Philosophen Hans Jonas angelegt sei.
Über all das lässt sich diskutieren, auch wenn sich bisweilen der Eindruck aufdrängt, dass hier ein kluger alter Herr seine eigenen, eher konservativen Auffassungen überhöht hat mit Verzichtsphilosophie. Dem Buch schadet es aber nicht, dass sich Otfried Höffe mit seinen Standpunkten aus der Deckung des nach allen Seiten abgesicherten philosophischen Räsonnements wagt. Auf die Lektüre dieses klugen Essays sollte man nicht verzichten.