Buch der Woche

Nicolas Mathieu: Wie später ihre Kinder

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Muss man das Leben seiner Eltern wiederholen? Sieht man schon an den Erwachsenen, wie später ihre Kinder leben werden?
So heißt der Debütroman des französischen Autors Nicolas Mathieu, der von einer Gruppe Jugendlicher erzählt. Dafür erhielt er 2018 den renommierten Prix Goncourt.
Mathieu weiß, wovon erschreibt, denn er kommt selbst aus Lothringen, einer nach Ende des Bergbaus wirtschaftlich abgehängten Region. Im Lothringen der 1990er spielt auch sein eindringlicher Roman.

Mathieu überrascht als Newcomer beim Prix Goncourt

Bis zur Verleihung des Prix Goncourt im November 2018 kannte man Nicolas Mathieu kaum. Er ist 41, kommt aus dem kleinen Städtchen Épinal im Nordosten Frankreichs, und hatte zuvor gerade mal einen Krimi publiziert („Aux animaux la guerre“).

Sein Roman „Leurs enfants après eux“ – der jetzt unter dem Titel „Wie später ihre Kinder“ auf Deutsch erscheint -  kam in Frankreich zum bestmöglichen Zeitpunkt heraus. Und nur zehn Tage nach der Preisverleihung begannen die landesweiten Proteste der „Gelbwesten“.

Ein Bericht über das Leben nach dem Bergwerk und der Stahlkocherei

Plötzlich sprachen alle über die Lebensbedingungen von Leuten in den Randregionen Frankreichs. Abseits der urbanen Zentren, in der nordöstlichen Provinz, spielt Nicolas Mathieus Roman.

Mit seinen Eisenerz- und Steinkohlevorkommen, den Bergwerken und Stahlkochereien gehörte Lothringen bis in die achtziger Jahre zu den wichtigsten Industrierevieren Frankreichs. Die Gruben und Hochöfen wurden nach und geschlossen.

Nicolas Mathieu schildert, wie die entlassenen Kumpel und Stahlkocher nun als Tagelöhner und Kleinhändler versuchen, ihre Familien zu ernähren.

Die ehemals prosperierende Region droht zu zerfallen

Sein Roman spielt in den Jahren 1992 bis 1998. Der fiktive Ort Heillange gleicht der real existierenden Gemeinde Hayange, in der jahrhundertelang Erz abgebaut wurde.

Der unersättliche Schlund der Fabrik hatte verschlungen, was er bekam, genährt durch ein Netz aus Straßen (...), durch ein System aus metallenen Röhren, die, als sie zurückgebaut und zu Kilopreisen verschleudert worden waren, die Stadt ausgeblutet zurückgelassen hatten.  (...) Am Ende blieben nur rostige Umrisse, eine Mauer, ein Tor mit einem kleinen Vorhängeschloss. Ein Politiker hatte im Wahlkampf vorgeschlagen, das Gelände zu einem Themenpark umzugestalten. Und die Kinder zerschossen die Öfen mit ihren Steinschleudern.

Immer wieder streut der Autor reportagehafte Beobachtungen ein in den Fluss seiner Erzählung über das Leben in einer ehemals prosperierenden Region. In Zweijahressprüngen erzählt der Autor von Sommern im Leben einer kleinen Clique Jugendlicher.

Zwischen Getriebensein, Unruhe und Überdruss

Sie hören Musik der amerikanischen Kultband Nirvana, sie kiffen, fahren mit dem Moped durch die Gegend, sehnen sich nach ersten erotischen Abenteuern und danach, das Tal zu verlassen. Es fällt Nicolas Mathieu leicht, seinen pubertierenden Figuren unter die Haut zu schlüpfen.

Er, der auch in der Provinz aufgewachsen ist, versteht ihr Getriebensein, ihre Unruhe und ihren Überdruss:

„Dieses Verlangen wegzugehen, sich aus dem Staub zu machen, das gehört zur Jugend, überall auf der Welt. Man findet, dass das Leben einfach zu eng ist und die Eltern nichts zu bieten haben, dass das Leben sein Versprechen nicht hält und man seinen Horizont anderswo erweitern sollte. Und die Handvoll Jugendlicher in meinem Roman drängt es umso mehr, weil sie in einer untergehenden Welt leben. Sie haben keine Lust, darin zu versacken und wollen so schnell und so weit wie möglich weg.“

Der Jargon der Jugendlichen wird glaubwürdig getroffen

Im Zentrum der Clique steht der 14 Jahre alte Anthony. Nicolas Mathieu richtet den Fokus auf die Entwicklung dieses Jungen, aber er erspürt ebenso intensiv, welche geheimen Wünsche die langsam erwachsen werdenden Mädchen antreiben.

Unangestrengt, d.h. glaubwürdig nutzt er den Jargon der Jugendlichen, ihre schonungslos-ruppige Ausdrucksweise, die in der gelungenen Übersetzung von Lena Müller und André Hansen etwas weniger vulgär klingt als im Original.

Autor Mathieu sagt: „Weil ich schreibe und weil ich mich für die Leute um mich herum interessiere, gelingt es mir, mich in so viele Figuren einzufühlen. Man wird jemand anderes, genauso wie man wieder der werden kann, der man einmal war.“

Die Stärke des Romans liegt in den Banalitäten des Alltags

Sechs Jahre umspannt der Roman. In dieser Zeit gehen Ehen in die Brüche und das Zuhause muss verkauft werden. Anthonys Vater wird bestraft, weil er einen nordafrikanischen Drogendealer verprügelte. Er verwahrlost und ertrinkt im See.

Die Jugendlichen haben Liebeskummer, aber sie lernen mit Enttäuschungen zu leben. Die Mädchen der Clique studieren in Paris und Nancy. Heimlich planen sie den Sprung nach Übersee. Anthony geht zur Armee. Er verletzt sich, wird entlassen und landet bei einer Zeitarbeiterfirma.

Mathieus Stärke ist es, den banalen Alltag und die sich unmerklich anbahnenden Veränderungen im Leben seiner Charaktere zu skizzieren.

Coming-of-Age-Geschichten treffen auf Kritik an der französischen Gesellschaft

Geschickt verknüpft er die Coming-of-Age-Geschichten mit einer Kritik an der französischen Gesellschaft, denn Klassenbewusstsein und Standesdünkel werden nicht versteckt. Nicolas Mathieus’ Vater arbeitete als Elektriker, die Mutter war Buchhalterin.

Er selbst hielt sich bis vor fünf Jahren mit Gelegenheitsjobs über Wasser. Der unerwartete Erfolg seines Romanerstlings, der im Original „Aux animaux la guerre“ heißt, veränderte 2014 sein Leben:

„Ich komme aus einer behavioristischen Erzähltradition, von der Kriminalliteratur, d.h. ich verfolge noch die unscheinbarsten Zeichen sehr, sehr aufmerksam: wie sich jemand bewegt, wie er sich sprachlich ausdrückt, welches Label seine Kleidung hat, welches Auto gefahren wird, überhaupt registriere ich Vorlieben jeder Art. Zur Schule gegangen bin ich in einer bürgerlichen Gegend, wo es Privatschulen gab. Den Abstand zwischen mir und meinen Altersgenossen habe ich damals zwar deutlich gespürt, aber erst viel später verstanden – als ich anfing, soziologische Bücher zu lesen.“

Mathieu bleibt subtil bei der Schilderung gesellschaftlicher Gegensätze

Nicolas Mathieu hat einen geschulten Blick für die Unbeholfenheit und Verlegenheit, mit der Jugendliche aus dem Prekariat sich in bürgerlichem Ambiente bewegen.

Anders als sein jüngerer Kollege Édouard Louis, der Literatur als Kampfmittel versteht und die Bourgeoisie direkt attackiert, verlässt sich Mathieu ganz auf die subtile Schilderung gesellschaftlicher Gegensätze in einer strukturschwachen Region.

Dabei leitet ihn das Gefühl einer schicksalhaften Tragik, die auch der dem Alten Testament entlehnte Romantitel „Wie später ihre Kinder“ andeutet. Denn die junge Generation hat, wie vordem ihre Eltern, keine hoch gesteckten Ziele und setzt deren Leben einfach fort.

Heimatgefühle können glücklich machen, aber nicht frei

Man spürt, wie viel Sympathie Mathieu mit den so genannten kleinen Leuten hat, die die Eintönigkeit des Lebens klaglos ertragen. „Wie später ihre Kinder“ ist die beeindruckende Chronik der 1990er Jahre, in denen der Nordosten Frankreichs sich politisch wie wirtschaftlich tiefgreifend veränderte.

Das Schlussbild des Romans drückt eine Grundüberzeugung des Romanciers aus: Das Empfinden, zu einem Landstrich zu gehören, kann vorübergehend glücklich machen. Nur frei fühlt man sich deshalb noch lange nicht.

Anthony stieg auf die Suzuki und war schnell wieder auf der Landstraße. (...) dieses besondere Licht, milchig, wenn sich der Juli mit einem Seufzer über Heillange legte und der Himmel in der Dämmerung wattig und rosig wurde. Das Gefühl von Sommerabenden, schattigen Wäldern. (...) Der Abdruck, den das Tal auf seinem Körper hinterlassen hatte. Die sanfte Beklemmung, dazuzugehören.

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Autor/in
SWR