Es ist eine enorme historische Kärrnerarbeit, die der 71-jährige Michael Grüttner, Professor für Neuere Geschichte mit Schwerpunkt Wissenschafts- und Universitätspolitik der Nationalsozialisten an der TU Berlin, hier geleistet hat.
Flüchten oder standhalten – diese Frage stellte sich für die Mitarbeiter an Universitäten, Ministerien und untergeordneten Verwaltungen in den Jahren 1933 bis 1945 immer drängender. Da an den 23 deutschen Universitäten am Ende der Weimarer Republik nur ein Prozent des Lehrkörpers weiblich war, sind die Ergebnisse von Grüttners Studie ausschließlich auf die männlichen Akademiker zu beziehen.
Durch die Einverleibung ausländischer Universitäten in den besetzten Ländern erhöhte sich zwar deren Zahl, was aber am fortschreitenden Niedergang des Forschungsstandorts Deutschland nichts änderte.
Folgen von Entlassungen
Weil jüdische oder – im Blick der NS-Ideologie – politisch „unzuverlässige“ Dozenten entlassen wurden, büßten die Hochschulen etwa zwanzig Prozent ihres Lehrkörpers ein. Proteste gegen die Entlassungen von Kollegen, die wissenschaftlich oft hoch anerkannt waren, regte sich nur in wenigen Einzelfällen. Die älteren, bereits arrivierten Uni-Angestellten schwiegen, die jüngeren rechneten sich bessere Karrierechancen durch die zusätzlichen freien Stellen aus.
Grüttner findet klare Worte für diese Reaktion: Charakterlosigkeit und mangelnde Zivilcourage kennzeichneten die Haltung vieler Wissenschaftler an deutschen Hochschulen.
Der Braindrain beförderte den Vorsprung in den USA und Großbritannien, wohin die besten Köpfe auswanderten. Mit Kriegsbeginn dezimierte außerdem die Wehrpflicht das wissenschaftliche Personal. Unterfinanziert waren die Universitäten schon vor 1933, weil Reparationskosten nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg die Mittel begrenzten und abnehmende Studentenzahlen geringere Hörgeld-Einnahmen zur Folge hatten.
Mit der Ausrichtung auf das sogenannte „Führerprinzip“ verloren die Universitäten im Dritten Reich ihr Recht auf Selbstverwaltung.
Quellenauswertung und Einordnung
Michael Grüttner wertet autobiografische Quellen wie Tagebücher und Briefe aus, in denen Professoren ihre Meinung zur politischen Entwicklung ungeschützt preisgeben. Wie weit die Wissenschaftler das NS-System unterstützten, ist nur bedingt durch ihre Mitgliedschaft in der NSDAP oder deren Unterorganisationen zu beurteilen. Es ist eine Leistung des Buches, wie gut und argumentativ schlüssig der Historiker Michael Grüttner hier differenziert, weil zwölf Jahre Universitätsgeschichte natürlich einen Vorlauf haben und die Quellen in komplexe Zusammenhänge einzuordnen sind. Eine tiefe Angst vor dem Kommunismus beförderte beispielsweise bei vielen Ordinarien nach Weltkriegserfahrung und den unsicheren Jahren der Weimarer Republik ordnungspolitische Sehnsüchte, die auf Hitler übertragen wurden.
Grüttner hat die Korrespondenz zwischen Reichserziehungsministerium und unterschiedlichen Verwaltungsebenen akribisch ausgewertet. Tabellen, Anmerkungen, Literatur- und Quellenverzeichnis sowie Orts- und Personenregister umfassen mehr als 150 Seiten. Ein Ergebnis dieser sorgfältigen Quellenanalyse ist die Erkenntnis, dass es keine klaren Zuständigkeiten für wissenschaftspolitische Entscheidungen gab, was zu permanenten Machtkämpfen zwischen Partei und Verwaltung führte, die Änderungen verzögerten oder blockierten.
Fächer wie Eugenik, Volkskunde und Agrarwissenschaften, die politisch und ideologisch besonders relevant waren, erhielten neue Lehrstühle. Mediziner machten zeitweise sechzig Prozent der Studenten aus, auch weil sie als Ärzte im Kriegseinsatz gefragt waren. Von Technik und Naturwissenschaften wurde Unterstützung bei der Entwicklung neuer Waffensysteme erwartet. Theologie und Geisteswissenschaften galten zunehmend als verzichtbar. „Intellektualismus“ erklärte Propagandaminister Goebbels zur „Degenerationserscheinung des gesunden Menschenverstandes.“
Michael Grüttner ist ein wissenschaftlich fundiertes, beeindruckendes Sachbuch gelungen, das auch interessierte Laien mit hohem Erkenntnisgewinn lesen können. Aber kann man der Aussage des Philosophen Karl Jaspers von 1945, der „Kern der Universität“ habe „in der Vergangenheit standgehalten“ noch zustimmen? Nach Grüttners kluger Analyse drängt sich doch eher der Eindruck einer Kernschmelze auf.