Schwieriger Start
Als uneheliches Kind einer weißen Frau und eines ghanaischen, schwarzen, Medizinstudenten geboren, wird May Ayim von ihrer Mutter nach der Geburt zur Adoption freigegeben. Ihr Vater darf sie aus rechtlichen Gründen nicht mit nach Ghana zu seiner Familie nehmen.
Sie wird von der weißen Familie Opitz in Westfalen adoptiert und wächst in einem — wie sie es selber beschrieb — strengen Umfeld auf. Ihre Adoptiveltern hätten versucht, ihr jeglichen Bezug zu ihrer Hautfarbe abzuerziehen — in der Vorstellung, dass sie als braves, mustergültiges Kind vor rassistischen Anfeindungen geschützt sei.
Die erste Untersuchung zur afro-deutschen Geschichte
Damals noch unter dem Namen ihrer Adoptivfamilie, Opitz, schreibt sich May nach dem Abitur an der Universität Regensburg ein und studiert Pädagogik und Psychologie. Ihre Diplomarbeit über die Kultur- und Sozialgeschichte von Afro-Deutschen ist die erste akademische Untersuchung der Geschichte von Afro-Deutschen.
Ihr ursprünglicher Betreuer in Regensburg lehnt das Thema ab, mit der Begründung, dass es in Deutschland doch „keinen Rassismus“ gebe. Eine Prüferin in Berlin akzeptiert ihre Arbeit jedoch und der Text wird einer der wichtigsten Startpunkte für das Buch „Farbe bekennen“.
Das Buch, das May Opitz 1986 zusammen mit Katharina Oguntoye und Dagmar Schultz herausgibt, findet in den 1980er Jahren zunächst vor allem in der afrodeutschen Community Zuspruch, entwickelt sich über die Jahre aber mit jeder Neuauflage zu einem Standardwerk.
Politisch aktiv und gut vernetzt
Im multikulturellen Berlin fühlt sich May Ayim wohl. Dort lernt sie die US-amerikanische Bürgerrechtsaktivistin und Schriftstellerin Audre Lorde kennen, die ab 1984 eine Gastprofessur an der Freien Universität innehat. Die Frauen freunden sich an und Lorde wird für Ayim und andere afro-deutsche Frauen ihrer Generation zu einer Art Mentorin. Sie ermutigt sie, über ihre Lebenserfahrungen als Schwarze Frauen und ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus zu sprechen und zu schreiben — ihre eigene Stimme und Perspektive zu finden.
Infolgedessen gehört Ayim, für die Intersektionalität — also das Zusammendenken von Unterdrückungsstrukturen und Emanzipationsbewegungen — ein wichtiger Punkt ist, 1986 zu den Gründer*innen der Initiative Schwarze Deutsche/Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Der Verein trägt bis heute wesentlich zur Vernetzung Schwarzer Menschen in Deutschland bei.
Schwarz und weiß, afrikanisch und deutsch: Afro-Deutsch
Den Nachnamen ihres biologischen Vaters, Emmanuel Ayim, nutzt die Schriftstellerin ab 1992 für ihre Veröffentlichungen. Sie lernt ihn und seine Familie bei Reisen nach Ghana kennen und baut ein gutes Verhältnis zu ihnen auf. Diese Verbundenheit will sie durch ihren Namen zeigen und gleichzeitig ihre Verwurzelung in mehreren Kulturen sichtbar machen.
„Sch-einheit“: Die Wiedervereinigung befördert rassistische Gewalt
Die Wiedervereinigung, das bestimmende politische und gesellschaftliche Thema der Jahre ab 1989, erlebt May Ayim — wie viele schwarze Deutsche — als traumatisch: Davon berichtet unter anderem ihr Gedicht „deutschland im herbst“, das Bezug nimmt auf die Reichspogromnacht 1938, die Ermordung von Amadeu Antonio in Eberswalde 1990 und die Brandanschläge auf verschiedene Asylbewerberheime in den 1990er Jahren.
Als May Ayim 1996 während den Vorbereitungen zum Black History Month in Berlin einen Zusammenbruch erleidet, wird bei ihr Multiple Sklerose dignostiziert. Die 36-jährige Ayim, die auch unter Depressionen leidet, befindet sich mehrfach in psychiatrischer Behandlung. Am 9. August 1996 tötet sie sich selbst.
Wortmächtige Dichterin
Immer wieder greift Ayim in ihrer Lyrik Themen aus Politik und Gesellschaft auf, manchmal mit Humor, immer mit ins Mark treffenden Worten. Sie schreibt unter anderem über das Frausein, Alltagsrassismus, ihre Hautfarbe und die Reaktionen darauf, über Zugehörigkeitsgefühl, Ablehnung und Befreiung. Sie ist auch als Spoken Word-Künstlerin aktiv.
1995 erscheint die Gedichtesammlung „blues in schwarz weiss“, 1997 wird posthum „nachtgesang“ veröffentlicht, sowie die Essay-Sammlung „Grenzenlos und unverschämt“.
„May Ayim — grenzenlos und unverschämt“ rezitiert:
Auch in ihren weniger politischen Texten und in ihrer Liebeslyrik zeigt May Ayims Schreibstil eine große Kraft. Sie spielt mit Sprache und Worten, hinterfragt ihre Bedeutung und Herkunft und setzt sie gezielt ein. Bei May Ayim ist kein Wort, kein Absatz dem Zufall oder der Gedankenlosigkeit überlassen.
„May Ayim — Hoffnung im Herz“: In ihren eigenen Worten
Der Dokumentarfilm „Hoffnung im Herz“ von Maria Binder zeichnet ein einfühlsames Porträt der afrodeutschen Autorin und lässt sie dabei ausführlich zu Wort kommen. Zusammen mit den Bildern der politischen und sozialen Verhältnisse im Deutschland der Wendezeit, wird die Wirkmacht ihrer Poesie umso eindrücklicher.
Einfluss über den Tod hinaus
Bislang nur einmal verliehen wurde der 2004 ausgelobte „May Ayim Award“. Damit soll in Gedenken an die Autorin das literarische Schaffen Schwarzer Menschen in Deutschland gefördert und sichtbar gemacht werden. Der Preis ist der erste Schwarze Deutsche Literaturpreis und ging im Gründungsjahr an die deutsch-nigerianische Dichterin Olumide Popoola.
2009 beschloss die Berliner Bezirksverordnetenversammlung von Friedrichshain-Kreuzberg, das nach dem preußischen Kolonial-Militär Otto von der Groeben benannte „Gröbenufer“ in „May-Ayim-Ufer“ umzubenennen.
May Ayim lesen
Neben den teilweise neu aufgelegten Büchern von May Ayim, erscheinen anlässlich ihres 25. Todestags mehrere Sammelbände, die sich der Autorin und ihrem gesellschaftlichen und literarischen Erbe widmen. Darunter das von ihren Weggefährtinnen Ika Hügel-Marshall, Dagmar Schultz und Nivedita Prasad herausgegebene „May Ayim — Radikale Dichterin, sanfte Rebellin“, das auch 20 bislang unveröffentlichte Gedichte enthält.
Außerdem hat die Kommunikationswissenschaftlerin und Autorin Natasha A. Kelly den Sammelband „Sisters and Souls 2 — Inspirationen durch May Ayim“ veröffentlicht.