2022 unterschrieb die Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja eine Petition, in der der Krieg gegen die Ukraine als „Schande“ bezeichnet wurde. Danach waren sie und ihr Mann Andrej Krassulin in Moskau nicht mehr sicher. Im Berliner Exil ist die engagierte Autorin jedoch keineswegs verstummt. In ihrem neuen Buch „Die Erinnerung nicht vergessen“ ist auch das Private, an das sie zurückdenkt, immer politisch. Der Band versammelt aktuelle Vorträge, Tagebucheinträge, Essays und Zeitungsartikel.
Aus dem Russischen von Ganna-Maria Braungardt
Carl Hanser Verlag. 192 Seiten, 23 Euro
ISBN 978-3-446-27630-7
Die 80-jährige russische Schriftstellerin Ljudmila Ulitzkaja veröffentlicht seit drei Jahrzehnten Romane und Erzählungen, für die sie eine Reihe von Auszeichnungen erhielt. Sie ist schon lange in der russischen Friedensbewegung aktiv und lebt seit März letzten Jahres in Deutschland. Ihr neues Buch heißt "Die Erinnerung nicht vergessen" – Angela Gutzeit.
Das Exil ist ein Leben im Wartezustand. Die äußeren Umstände können angenehm sein, und doch bleibt der innere Kompass gen Heimat gerichtet. Ljudmila Ulitzkajas neues Buch „Die Erinnerung nicht vergessen“ steht ganz im Zeichen dieser Sehnsucht. „Ich habe nur noch eine Hoffnung und einen Traum: Ich möchte das Ende dieses Kriegsirrsinns noch erleben und zurückkehren nach Moskau, in meine Wohnung, in die gewohnte und geliebte Welt, in der ich mich ‚am rechten Ort‘ fühle, so schreibt die nach Berlin geflohene 80-Jährige im Vorwort.
Der Band versammelt Vorträge, Tagebucheinträge, Essays und Zeitungsartikel Ulitzkajas aus den Jahren 2016 bis 2022. Vom Krieg und von Verlustängsten geprägt sind sie alle. Auch von der Erwartung des Todes. „Deshalb diese Aufzeichnungen“, schreibt sie, „denn ich habe nicht mehr viel Zeit.“ Auch wenn die Texte verschiedenen Ursprungs sind, so folgt ihre Anordnung doch einer klar erkennbaren Dramaturgie. Die Erinnerung bleibt zunächst ganz bei sich selbst, konzentriert auf den eigenen weiblichen Körper, auf Herkunft, Romanzen, Ehen, Geburten und Freunde. Dann weitet sich der Blick, führt hin zu den „großen Fragen“, zur Freiheit des Individuums im Totalitarismus, zu Religion und Glaube, Mensch und Natur, um zum Schluss wieder das Schmerzthema Emigration zu berühren. Über fast allen Themen liegt der lange Schatten des Sowjetkommunismus.
Auf eine Chronologie kommt es der Autorin nicht an. Sie bevorzuge das Flickwerk, schreibt sie gleich zu Beginn. Schließlich sei das auch ein „wesentliches Merkmal des sowjetischen Daseins“ gewesen. In den ersten Kapiteln über die eigene Biografie schreibt Ulitzkaja sogar ohne Punkt und Komma, wohl um die Zerrissenheit ihrer Existenz, wie aber auch die Zeitnot zu betonen, dem „schwindenden Gedächtnis“, wie sie schreibt, das Wesentliche abzuringen. Prägend die Erinnerungen an ihre jüdische Familie, die seit 1917 in Moskau lebte, an einen Großvater, der unter Stalin ins Lager verbannt wurde. Letzteres eines der familiären Dramen, das Ulitzkaja in ihrem großen Roman „Die Jakobsleiter“ verarbeitete.
Einen besonderen Stellenwert nimmt jedoch in diesem ersten Kapitel des Erinnerungsbuches das Thema Künstlertum und Freundschaft ein. Während der sowjetische Totalitarismus mit seinen Schauprozessen und Gulags die Entpersönlichung des Individuums erfolgreich vorantrieb, hätten sich „die Künstler als die freiesten Menschen der damaligen Zeit“ erwiesen, so ist zu lesen. Ulitzkaja verkehrte in diesen Freundeskreisen. Rückblickend spricht sie von „Märtyrern“, „Lichtgestalten“ und „Heiligen“, eine Verklärung, die wohl Ulitzkajas Nähe zur Religion geschuldet ist. Auch davon ist hier die Rede – von ihren Glaubenskrisen im Spannungsfeld zwischen Judentum, Christentum und Anthroposophie.
Nicht allen Sichtweisen der russischen Autorin mag man folgen. So interessiert sich die studierte Biologin und frühere Genetikerin für Theorien über den Staat vor allem dann, wenn sie Erkenntnisse über die Tierwelt berücksichtigen. Die Analogie bleibt hier allerdings undurchschaubar. Fragwürdig auch ihre Behauptung, alle alten und neuen „sozialen und politischen Mythen“ seien gescheitert. Aber erleben wir in Russland nicht gerade die Wiederbelebung alter Mythen? Und das sogar recht erfolgreich?
Die Texte dieses Bandes streifen noch einmal viele wichtige Themen aus Ljudmila Ulitzkajas nun über vierzigjährigem literarischen Schaffen. Dabei gleichen ihre Erinnerungen und Reflexionen zunehmend einem Abgesang. Denn zum Schluss des Buches wirft Ulitzkaja ein düsteres Licht auf die Zukunft ihrer Heimat. Russland stehe heute erneut vor einem Wendepunkt, der nichts Gutes verheiße, schreibt sie. Eine Prognose, die sich eigentlich nicht mit der eingangs formulierten Hoffnung verträgt, doch noch einmal „in die gewohnte und geliebte Welt“ zurückkehren zu können. Diese Welt, so ist zu befürchten, geht gerade unter.