Marcus Imbsweiler ist bekannt für seine Krimi-Reihe um einen Heidelberger Privatdetektiv. Doch schreibt der studierte Musikwissenschaftler auch immer wieder über Musiker und Komponisten – vor zehn Jahren etwa „Frontsignale“, Erzählungen über Musik und Krieg. Jetzt ist ein Nachfolger erschienen: „Kabinett der Grazien. Komponistenerzählungen“. Desirée Löffler hat das Buch gelesen und findet, dass es genau zur rechten Zeit kommt.
„Kabinett der Grazien“ - was für ein adretter, evokativer Titel! Das klingt nach Omas alter Vitrine mit den fein bemalten Porzellanfigürchen oder nach Debütantinnen vor dem ersten Ball. Passend dazu sitzt auf dem Cover von Marcus Imbsweilers neuem Buch ein hübsches Blaukehlchen auf einem Geigenbogen, den Schnabel apart zum Singen geöffnet. Aber das Wort „Kabinett“ ist schließlich doppeldeutig. Der Begriff stammt aus dem Absolutismus und tatsächlich ist Imbsweilers neues Buch so harmlos nicht.
Marcus Imbsweilers „Kabinett der Grazien“, erschienen im Conte Verlag und für 17€ zu haben, versammelt vier Erzählungen. Jede dreht sich um einen Komponisten und die Frage, wie er sich mit den politischen und gesellschaftlichen Umständen seiner Zeit auseinandergesetzt hat.
Eigentlich ist es ein Klischee zu sagen, in einer Geschichte sei „nichts, wie es scheint“ - das ist ja schließlich der Sinn der Sache. Aber im „Kabinett der Grazien“ ist tatsächlich nichts auch nur annähernd, wie man erwartet. Alle vier Protagonisten wähnen sich am Anfang in Sicherheit. Dann aber wird jeder von ihnen gewaltsam in eine Welt gerissen, die sein Innerstes nach außen kehrt.
Der Mann, der sich da so erschreckt, ist Ludwig van Beethoven. Bei einem Besuch im Wachsfigurenkabinett wird eine der Figuren unverhofft lebendig und entpuppt sich als historisches Vorbild der Leonore aus seinem Fidelio. Und die Frau ist nicht die tapfere Freiheitskämpferin seiner Träume, sondern eine zynische Schabracke, die alles in Frage stellt, woran der arme Mann glaubt.
In der nächsten Geschichte besucht ein junger, blauäugiger Militärbeamter Antonin Dvorak in Böhmen. Seine Mission: den berühmten Komponisten überreden, einen Marsch für den Kaiser zu komponieren. Aber kaum angekommen wird er auf merkwürdige Weise Zeuge eines Lynch-Mords im weit entfernten Texas.
Jacques Offenbach dagegen ist auf Kur in Bad Ems, als plötzlich Krieg zwischen Möhren und Karotten ausbricht. Das ist nur der Anfang eines Albtraums, der selbst Kafka hätte erbleichen lassen.
Und dann wäre da ein sexistisches Ekel, das eine junge Anhalterin aufliest – eine Sopranistin, die einst die Musik Perotins geliebt hat. Ohne zu viel zu verraten: Auch diese Geschichte endet als Hieb in die Magengrube.
Alle vier Geschichten beginnen harmlos, auf vertrautem Terrain. Dann aber fängt die Realität an zu bröseln – je nach Story mal langsamer und mal schneller.
Abseits der Wirklichkeit und damit auch der biographischen Details seiner Protagonisten erkundet Imbsweiler, auf welche Arten Menschen einander Gewalt antun, wie schnell eine Situation auf gefährliche Art kippen kann - und natürlich, wie Musik sich für die vier Komponisten in seinen Erzählungen zu Terror, Zwang und Blutvergießen verhält. So zum Beispiel sieht es die fiktive Version von Antonín Dovrak:
Die Schreie, auf die die fiktive Version von Dvorak sich hier bezieht, sind die eines jungen Schwarzen, der 1893 tatsächlich von einem weißen Mob zu Tode gefoltert wurde. In dieser Erzählung wird Imbsweiler sehr deutlich. Nicht nur, indem er seinem Dovrak solch klare Worte in den Mund legt, sondern auch, indem er den Mord an Henry Smith bis ins letzte historisch verbriefte Detail beschreibt. Da hilft es auch nicht, dass der junge Militärbeamte, der die Geschichte erzählt, das Ganze für ein Theaterstück hält.
Von George Floyds Erstickungstod in Minneapolis und der neuen Wucht der Black Lives Matter-Bewegung hat Imbsweiler natürlich noch nichts wissen können, als er diese Worte schrieb; trotzdem liest sich seine Erzählung wie ein pointierter Kommentar auf die aktuelle Situation. Zufall? Wahrscheinlich nicht. Schließlich ist das Thema Gewalt ewig aktuell - und womöglich hat Imbsweiler, wie viele andere, gespürt, dass Wut und Hass seit einigen Jahren wieder zunehmend in der Luft liegen. Nicht nur in den USA.
Die Brutalität, die Marcus Imbsweiler in seinem „Kabinett der Grazien“ beschreibt, mag streckenweise quälend sein, aber sie hat immer einen Zweck. Sie erinnert daran, dass Gewalt viele Gesichter hat, und hilft uns zu verstehen, wie der jeweilige Komponist mit den Ungerechtigkeiten und Gräueln seiner Zeit umgegangen ist. Außerdem sind die vier Geschichten nicht nur schmerzhaft. Sie sind auch fantasievoll, vielschichtig, verspielt, manchmal virtuos. Und auch wenn sie nicht den Anschein erwecken, dass Musik uns vor Hass und Gewalt bewahren könnte, lassen sie uns zumindest die Hoffnung, dass sie uns den Rücken stärkt.