Die Kanadier hatten dieses Jahr Riesenpech: Groß wollten sie sich und ihre Literatur auf der Frankfurter Buchmesse vorstellen: als multiethnisches und vielsprachiges Land. Doch ein Virus durchkreuzte all die schönen Pläne.
Die Kanadier*innen bleiben zuhause – ihre Bücher aber können trotzdem erscheinen. Einer der interessantesten Texte ist sicherlich der Roman „Jonny Appleseed“ von Joshua Whitehead.
Darin erzählt Whitehead die Geschichte eines queeren Mannes vom Stamme der Oji-Cree, der in Winnipeg lebt. Horizonterweiterung garantiert!
Auch der Autor Whitehead gehört zum Stamm der Oji Cree
Im letzten Sommer gab Tommy Orange mit seinem Bestseller "Dort, Dort" über indigene Amerikaner*innen in Städten, den selten gehörten Indigenen eine Stimme.
Autor Joshua Whitehead gehört zu den Oji-Cree, einem Stamm der kanadischen First Nations. Whitehead ist schwul. Und er liebt Kleider, Schminke, Schmuck, das Spiel mit Geschlechter-Identitäten.
Seine Identität sieht Whitehead jenseits des binären männlich-weiblich Schemas
Er selbst nennt sich einen Two-Spirit – so bezeichneten seine Vorfahr*innen Stammesmitglieder mit einer Geschlechteridentität jenseits des männlich-weiblich Schemas.
Geboren wurde Whitehead in einem Reservat in der kanadischen Provinz Manitoba, etwa 190 km nördlich der Provinzhauptstadt Winnipeg.
Zwischen Autor und Protagonist gibt es zahlreiche Parallelen
Und zwischen diesen beiden Orten, dem Reservat und der Großstadt bewegt sich auch ein weiterer Two-Spirit, der Titelheld seines Debütromans „Jonny Appleseed“.
Klischees über amerikanische Indigene sind nicht tot zu kriegen – und spätestens seit Pocahontas sind sie Objekt von sexuellen Fetischen. Jonny Appleseed, die Hauptfigur in Joshua Whiteheads gleichnamigem Roman, hat daraus ein Geschäft gemacht.
Vom Reservat in die Großstadt
Wie der Autor ist Jonny Angehöriger der Oji Cree und ein „Two-Spirit“. Als Trans-Person hatte er einen schweren Stand im Reservat.
Seit er in die Großstadt Winnipeg geflüchtet ist, verdient er Geld mit Webcam-Sex: Auf einschlägigen Online-Portalen bedient Jonny die erotischen Fantasien weißer Rothaut-Jäger.
Johnny bedient die klischeehaften Vorlieben seiner Kunden ganz pragmatisch
Auf sie übt ein echter NDN, so die umgangssprachliche Bezeichnung für die Indigenen, einen besonderen Reiz aus. Und Jonny geht pragmatisch mit diesen Gelüsten um.
Es ist dieser selbstbewusste, auch selbstironische Ton, der Jonny von der ersten Seite des Romans an sympathisch erscheinen lässt.
Die Rahmenhandlung ist schnell erzählt: Weil sein Stiefvater – „ein homophober Scheißkerl“ – stirbt, will Jonny zum ersten Mal seit langem ins Reservat zurück, um seiner Mutter bei den Beerdigungs-Vorbereitungen zu helfen.
Die mitreißende Erzählung gewährt Einblicke in die Lebenrealität der Reservatbewohner*innen
Die bevorstehende Reise weckt bei Jonny Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. In 54 episodenhaften Kapiteln erzählt er von seinen Verwandten, den Nachbar*innen und anderen Bewohner*innen des Reservats.
Von dysfunktionalen Familien, schlagenden Vätern, wegadoptierten Geschwistern, zu viel Feuerwasser und Schmerzmitteln. Aber auch von den starken indigenen Frauen, die oft die ganze Last alleine schultern.
Der 31-jährige Autor Whitehead ist ein mitreißender Erzähler. Er schreibt über all das Schwere, ohne dass es die Leser*innen erdrückt. Und gewährt uns so einen seltenen Einblick in die prekäre Lebensrealität der Nachfahren der kanadischen First Nations.
Seit Jonny 8 Jahre alt ist, weiß er, dass er Männer liebt – trotzdem spielt er im Reservat den Hetero
In dieser engen Welt ist für schwule Lebensentwürfe augenscheinlich wenig Platz. Beleidigungen, Drohungen und körperliche Angriffe sind an der Tagesordnung.
Jonny mimt den Hetero, um dazuzugehören. Und hat Kurzaffären im Vollrausch. Seit er acht Jahre alt ist, ist ihm klar, dass er Männer liebt. Als Jonny sich mit seinem Kinderfreund Tias die Fingernägel lackiert, lässt die Strafe nicht lange auf sich warten.
Identitätsfindung soll Traumata besiegen
Jonny tröstet Tias. Und der wird die große, schmerzlich-schöne Liebe seines – Jonnys‘ – Lebens. Schmerzen lindern, Verletzungen und Diskriminierung überwinden, indem man darüber erzählt.
Davon handelt dieses gut zugängliche, lebenskluge und mitfühlend geschriebene Buch. Gerade für die indigenen Völker mit ihren oft über Generationen nachwirkenden Unterdrückungserfahrungen gilt: Nur wer seine heutige Identität findet, kann über die alten Traumata triumphieren.
Im Nachwort formuliert es Autor Joshua Whitehead so:
Die Großmutter des Protagonisten spielte in seinem Leben eine entscheidende Rolle
Den Schmerz lieben lernen – ein Ratschlag, den Jonny von seiner verstorbenen Großmutter erhalten hat, seiner „Kokum“, wie sie in der Cree-Sprache heißt, einer lebensweisen Frau mit liebenswert-schrulligem Hang zu Gruselgeschichten, Wrestling-Matches und Maissirup.
Die Großmutter ersetzte in seiner Kindheit nicht nur die wegen ihrer Alkoholprobleme oft abwesende Mutter. Sie war es auch, die Jonny in die Traditionen seines Volkes einführte.
Der Roman wirbt für die Toleranz, die die Großmutter vorlebte
Und sie war die erste, die Jonny bedingungslos akzeptierte. Ihn ermutigte, seinen queeren Weg zu gehen. Eine Toleranz, für die der ganze Roman wirbt. Autor Joshua Whitehead notiert im Nachwort:
Für Jonny verkörpert seine heiß geliebte Großmutter eine Art spirituelle Mentorin und Beraterin. In ihren Geschichten und seinen Erinnerungen daran bleibt sie für ihn lebendig.
Der richtige Platz im Leben muss nicht immer ein Ort sein
Nach der Beerdigung des verhassten Stiefvaters hält er an ihrem Grab in der Nähe des Reservats Zwiesprache mit ihr:
„Jonny Appleseed“ ist eine zu Herzen gehende Geschichte über die Suche nach dem richtigen Platz im Leben. Sie vermittelt die Erkenntnis, dass dieser Platz nicht unbedingt ein Ort sein muss, sondern auch ein Gefühl sein kann.
Dieser absolut gegenwärtige Roman über Liebe, Sex und Familie dürfte Jugendliche ansprechen, die selbst noch auf der Suche nach ihrer Identität sind. Und ältere Leser*innen, die sich an diese Zeit noch gut erinnern.