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Jarosław Kuisz, Karolina Wigura – Posttraumatische Souveränität. Ein Essay

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Autor/in
Judith Leister

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Im Ukrainekrieg zeigten viele Länder Ostmitteleuropas mehr Solidarität mit dem überfallenen Land als Westeuropa, sagen die Autoren dieses Buchs. Grund dafür seien historische Traumata, für die man in der westlichen Politik lange kein Ohr hatte.

Im Jahr 1795, bei der sogenannten letzten polnischen Teilung, wurde Polen für 123 Jahre von der Landkarte getilgt. Nachdem Österreich-Ungarn, Preußen und Russland das Land unter sich aufgeteilt hatten, begann die geheime Jagd auf die wertvollen polnischen Krönungsinsignien. Das Rennen machte Preußen unter Friedrich Wilhelm III. Um die klamme preußische Staatskasse zu füllen, schmolz man die Insignien 1809 ein. Die drei siegreichen Großmächte hatten ihren Raubzug mit dem angeblich in Polen herrschenden Chaos begründet. Dieses liefere – Zitat der Siegermächte – „gute Gründe dafür, mit Besorgnis den vollständigen Zerfall des Staates zu erwarten“.

Jahrhunderte der Unterdrückung

Ähnliche Erfahrungen mit Großmächten mussten auch andere ostmitteleuropäische Länder machen, schreiben Jarosław Kuisz und Karolina Wigura in ihrem erhellenden Buch „Posttraumatische Souveränität“. Ihr Blick konzentriert sich auf Russland, das in den letzten 300 Jahren und bis in die Gegenwart hinein in Ostmitteleuropa immer wieder unabhängige Staaten zerstört, Territorien und Bevölkerungen dezimiert sowie Kultur und Gesellschaft unterdrückt hat. Diese Traumata haben Spuren im kollektiven Gedächtnis hinterlassen.

Die nach dem Ende der Sowjetunion neu gegründeten Nationalstaaten in Ostmitteleuropa hätten stets vor Russland gewarnt, wurden aber vom Westen nicht ernst genommen. Schon im Tschetschenienkrieg 1999 und im Georgienkrieg 2008 solidarisierten sich die Ostmitteleuropäer mit den von Russland attackierten Ländern. Der polnische Präsident Lech Kaczyński sagte damals in Tiflis: „Uns ist vollkommen klar, dass heute Georgien an der Reihe ist, morgen die Ukraine, danach die baltischen Länder, und später kommt vielleicht mein Land, Polen, dran!“

Ostmitteleuropäische Handlungsfähigkeit vs. westeuropäisches Zögern

Die Unentschlossenheit Deutschlands zu Beginn des Ukrainekriegs erinnerte die Ostmitteleuropäer an das Zögern Frankreichs und Großbritanniens beim Überfall auf Polen 1939. Sie selbst hätten sich dagegen größtenteils als vorausschauend und handlungsfähig erwiesen, stellen Kuisz/Wigura fest. Trotz Drohungen aus Moskau beteiligten sich Polen und Rumänien schon Jahre vor dem Ukrainekrieg am Aufbau eines Raketenschutzschildes an der NATO-Ostflanke. Die drei baltischen Staaten wiederum sicherten sich US-Zusagen im Fall russischer Grenzverletzungen und machten sich bereits im Februar 2022 von russischem Gas unabhängig, um nur einige Beispiele zu nennen. Gemeinsam sei vielen Ländern Ostmitteleuropas auch, dass sie Friedensschlüssen mit Russland skeptisch gegenüberstehen und einen militärischen Sieg vorziehen würden.

Traumata als „zweischneidiges Schwert“

Die relativ junge Staatlichkeit der ostmitteleuropäischen Länder nennen Kuisz/Wigura „posttraumatisch“. Im zweiten Teil ihres Buches weisen sie nach, dass das Posttraumatische Stresssyndrom heute zu einem universellen Konzept geworden ist. Ursprünglich als Kriegsfolge diagnostiziert, werde es heute auch für die Opfer von Autounfällen oder sexuellen Übergriffen verwendet. Der Traumabegriff sei allerdings ein „zweischneidiges Schwert“. Galten Traumaopfer einst als schwach, so würde heute „die mit dem Opferstatus verbundene Schwäche als Stärke betrachtet.“ Traumata fördern den Erkenntnisgewinn, diagnostizieren Kuisz/Wigura. So habe Ostmitteleuropa durch seine Traumata einen Wissensvorsprung gegenüber Westeuropa gehabt. Die Gefahr des Traumakonzepts bestehe allerdings in seiner Beliebigkeit und im Missbrauch durch mögliche Opferkonkurrenzen.

Hat sich das Zentrum Europas durch den Ukrainekrieg nach Osten verschoben? Die Autoren beantworten diese Frage nicht eindeutig. Aber ihr Buch zeigt, dass Westeuropa besonders in Sachen Realitätssinn und Resilienz von Ostmitteleuropa lernen kann.

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