Die Deutschen lieben ihren Wald. Urwüchsig soll er sein, bunt und abwechslungsreich. Statt Wirtschaftswald neue Wildnis. Das würde der Artenvielfalt und dem Naturschutz dienen. Ein schwerer Irrtum, so weist der Biologe Jan Haft in seinem neuen Buch „Wildnis" nach.
Penguin Verlag, 142 Seiten, 18 Euro
ISBN 978-3-328-60273-6
Der 1967 geborene Jan Haft ist einer der erfolgreichsten Naturfilmer Deutschlands. Seine Dokumentationen über Landschaften, Tier- und Pflanzenwelt wurden mit zahlreichen Preisen bedacht. In den letzten Jahren hat er auch einige Bücher darüber geschrieben. Das aktuelle heißt: „Wildnis. Unser Traum von unberührter Natur" – Johannes Kaiser.
Viele verbinden Wildnis mit Wäldern, die sich selbst überlassen werden wie der thüringische Nationalpark Hainich oder der Nationalpark Bayerischer Wald. Besonders wertvoll ist vor allem das Totholz in ihnen, so Jan Haft, denn von ihm ernähren sich zahlreiche Klein- und Kleinstlebewesen. Doch anders als viele von uns vermuten, sind solche Wälder keineswegs Hotspots der Artenvielfalt.
Die Statistik ist da eindeutig. Die meisten Pflanzen, Tiere und Insekten leben auf naturbelassenem Offenland. Von den viertausend höheren Pflanzenarten, das reicht vom Gänseblümchen bis zur Eiche, leben nur zweihundertfünfzig im Wald. Ob man Moose, Flechten oder Pilze nimmt – die meisten bevorzugen offenes Gelände. Nur wenige fühlen sich im wilden Wald wohl. Das hat Konsequenzen für die Tierwelt. Nur ein Zehntel der heimischen Vogelarten schätzt den Wald. Noch schlimmer steht es um Spinnen. „Von den eintausend Arten …“, schreibt der Autor, “sind nicht einmal magere zehn Arten ausschließlich im Waldinneren zu finden.“ Kurzum: die Bilanz fällt ziemlich dürftig aus.
Statt dunklem und kaltem Wald bevorzugt die Mehrheit der hiesigen Arten Sonne und Wärme und das heißt offene Landschaften. Nun wimmelt aber nicht jede Wiese, die sich selbst überlassen wird, von seltenen Pflanzen und Insekten. Ganz das Gegenteil stimmt, so der Autor: In einer Wiese, die mehrfach im Jahr gemäht wird, wie das in der deutschen Landwirtschaft inzwischen üblich ist, um Silage zu machen, stirbt die Vielfalt. Die meisten Blumen und Gräser werden gekappt, bevor sie ihre Blütenstände voll entwickelt haben. Nicht nur ihr Nektar fehlt dann vielen auf sie angewiesenen Insekten, auch ihre Blätter und Stängel, in denen sie oftmals ihre Eier ablegen und von denen ihre Larven sich dann ernähren. Diese Insekten wiederum locken selten gewordene Vögel an. Wird gemäht, bleiben die weg. Ungemäht ist aber auch fatal, denn dann setzen sich nur die kräftigsten und widerstandsfähigsten Pflanzen durch, die offenen Flächen fangen an zu verbuschen, verwandeln sich langsam in Wald.
Wirkliche Wildnis entsteht so nicht. Die braucht Beweidung durch Großvieh. Das frisst peu á peu Teile der Wiese auf, lässt somit vielen Pflanzen und damit auch Insekten Zeit zur vollständigen Entwicklung.
Jan Haft blickt in seiner Begründung tausende Jahre zurück, um dieses Zusammenspiel von Artenschutz und Beweidung zu erklären. Wildnis – und das heißt große Artenvielfalt – gab es in Europa, wie paläontologische Befunde beweisen, als große Herden grasender Mammuts, Auerochsen und anderer Huftiere weite Teile der Landschaft offenhielten. Ihr Dung nährte dabei nicht nur viele Pflanzen und Pilze, sondern bot zudem zahllosen Insekten eine Mahlzeit. Von denen wiederum ernährten sich Vögel, Reptilien und Fledermäuse.
Wildnis heißt also keineswegs, geschützte Landschaften sich selbst zu überlassen. Artenvielfalt braucht Weidevieh, egal welcher Rasse. Jan Haft räumt dabei auch mit dem Vorurteil auf, dass Rinder besonders klimaschädlich sind. Wird Gras regelmäßig abgefressen, bildet sich in der Erde ein dichtes Wurzelwerk, das CO 2 speichert und zwar mehr als den Rindern an Methan entweicht. Dafür allerdings müssen sie auf die Weide und nicht wie hierzulande inzwischen üblich in Ställen gehalten werden. Auch muss ihre Anzahl angepasst werden, um eine schädliche Überweidung zu vermeiden.
Das sind zumindest für den traditionellen Naturschutz verblüffende Erkenntnisse. Sie bedeuten, dass Wildnis heute bewusst geplante Eingriffe des Menschen erfordert, kein Sich-Überlassen der Natur.
Ich habe in den letzten Jahren selten ein Buch gelesen, das so überzeugend für eine Kehrtwende im Naturschutz wirbt, ohne die Schwierigkeiten in der Praxis zu negieren. Kompromisse werden, wie er selbst schreibt, nötig sein. Sein Buch ist ein überzeugendes Plädoyer für eine menschgesteuerte Wildnis mit großen Weidetieren.