Buchkritik

Helmut Lethen – Der Sommer des Großinquisitors. Über die Faszination des Bösen

Stand
Autor/in
Günter Kaindlstorfer

Helmut Lethen hat mit 81 zum ersten Mal Dostojewskis Fabel vom "Großinquisitor" gelesen. Und fühlt sich dadurch zu einer Studie über die "Faszination des Bösen" berufen.
Rezension von Günter Kaindlstorfer.

Rowohlt Verlag, 240 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-7371-0162-2

Es ist nie zu spät für Dostojewski. Helmut Lethen, 84, zum Beispiel hat im Frühjahr 2020 während der Corona-Isolation in der Uckermark zum ersten Mal „Die Brüder Karamasow“ gelesen. Die Legende vom „Großinquisitor“, die in Dostojewskis Monumentalroman von einem der Brüder Karamasow erzählt wird, hat den Literaturwissenschafter auf Anhieb fasziniert. Es sei ein Gift, aber ein reizvolles Gift, das Dostojewski seinen Leserinnen und Lesern da injiziere, so Helmut Lethen:

„Es geht um die Negation der Moral. Das ist die Haupttriebfeder. Das ist quasi das toxische Element dieser Legende.“

Die Parabel vom Großinquisitor, eine der berühmtesten Geschichten der Weltliteratur, provoziert bis heute. Dostojewski lässt Jesus Christus im Sevilla des 16. Jahrhunderts wieder unter die Menschen treten. Der Nazarener heilt einen Blinden und erweckt ein totes Kind zum Leben. Das stört die Inquisition, sie lässt Jesus verhaften. In der Nacht vor seiner Hinrichtung wird der Gottessohn vom Großinquisitor ein letztes Mal verhört. Die Menschen würden die Freiheit, die Jesus ihnen zu bringen verheiße, nicht ertragen, erklärt der Großinquisitor, sie sei den Menschen eine Qual, diese Freiheit, und deshalb habe die Kirche, inzwischen mit dem Teufel im Bunde, zum Wohle der Massen ein System der Unterdrückung geschaffen, das Jesus mit seinem Wieder-Erscheinen in Gefahr bringe – und deshalb müsse er sterben.

„Ich bin im Laufe der Arbeit hin und her geworfen worden. Erst mal hat mich diese Figur außerordentlich fasziniert, die davon ausgeht, dass man quasi mit der Tugendlehre des Christus keinen Machtapparat aufbauen kann, dass Christus sozusagen ein Störfaktor ist, und dass Dostojewksi das Experiment unternimmt: „Kann diese Kirche nicht auch besser ohne Christus existieren?“ Ja, und dieses Experiment wird vom Großinquisitor so beantwortet: Natürlich ohne. Mit dem Störfaktor der Bergpredigt können wir überhaupt nichts erreichen.“

Die Dostojewskische Legende hat große und weniger große Geister zum Weiterdenken inspiriert. Helmut Lethen folgt in seiner 240-seitigen Studie den Spuren, die der frevlerische Inquisitor in der Geistesgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts hinterlassen hat – im Wirken der Okkultistin Helena Blavatsky ebenso wie in der düsteren Weltsicht des französischen „decadents“ George-Charles Huysmans, bei Thomas Mann und Helmut Plessner genauso wie bei Georg Lukacs und Albert Camus. Ausführlich befasst sich Lethen auch mit Max Weber, der sich in seinem Vortrag „Politik als Beruf“ ebenfalls auf Dostojewskis „Großinquisitor“ bezieht. Ohne es eindeutig auszusprechen, scheint Weber den Dostojewskischen Christusverfolger für einen Verantwortungsethiker zu halten:

„Max Weber hatte da keine Scheu zu sagen, der Verantwortungsethiker, der Realitätspolitiker bedarf diabolischer Mittel.“

Helmut Lethen kommt in seinem gelehrten Buch zu keinem eindeutigen Schluss, wie die Dostojewskische Fabel nun genau zu verstehen sei. Möglicherweise empfiehlt es sich, Jesus das letzte Wort zu überlassen. Der Messias küsst seinen Widersacher am Ende des Dostojewskischen Texts einfach auf „seine blutleeren, neunzigjährigen Lippen“. Lässt sich eine machtvollere Antwort auf den Hinrichtungsbefehl des Großinquisitors denken?

(Bitte beachten Sie: Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.)

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