Das Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos steht sinnbildlich für „Europas Verrat an Moral und Menschlichkeit“, so der Untertitel dieses Reports. Die deutsch-norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk liefert Einblicke aus den Jahren 2015 bis 2023.
Seit 2015 sind die Flüchtlingsdramen an Europas Grenzen ins Bewusstsein der Öffentlichkeit geraten. In diesem und im folgenden Jahr erreicht die Anzahl der Flüchtenden in Deutschland ihren Höhepunkt: Mehr als eine Million Menschen suchen Schutz. Bundeskanzlerin Merkel steht mit ihren Worten „Wir schaffen das“ für eine Willkommenskultur. 2015 ist aber zugleich der Startschuss für rechtspopulistische und faschistische Bewegungen, die gegen diese Willkommenskultur Front machen. Im August 2015 beginnen die Aufzeichnungen von Katrin Glatz Brubakk:
Inhumanität mitten in Europa
Ein Europa, das sich auf seine Humanität beruft. Ein Europa, das um seinen Wohlstand besorgt ist. Die deutsch-norwegische Kinderpsychologin Katrin Glatz Brubakk hat sich acht Jahre lang als Helferin betätigt, sie hat mit Flüchtlingen gesprochen, ihre Schicksale aufgeschrieben, von ihren Erfahrungen mit rüden Beamten und Staatsorganen berichtet. Eine griechische Psychologin wird Ende 2022 mit drastischen Worten zitiert.
Pushbacks und Kriminalisierung
Eine Statistik der Hilfsorganisation Aegean Boat Report gibt für die Zeit von 2017 bis 2022 eine Übersicht über die Verstöße gegen die Menschenrechte: Rund zweitausend Boote seien in diesen fünf Jahren mit insgesamt fast 50 000 Menschen an Bord über die Seegrenze zurückgestoßen, -gedrängt oder -geschleppt worden. Pushbacks, so heißt das, wenn die griechische Küstenwache unerwünschte Flüchtlinge ins Meer zurücktreibt. Gewaltsam und rücksichtslos. Und die Helfer in der Not werden kriminalisiert. Aufgrund einer verordneten Abschottungspolitik der Europäischen Union. Einer der Betroffenen ist der norwegische Fotograf Knut Bry, der für dieses Buch beklemmende Fotos zur Verfügung gestellt hat. Wegen Spionage wurde er verhaftet, gegen Kaution kam er frei, unerwünscht in Griechenland ist er geblieben.
Empörend und schwer erträglich...
Heute wagt sich der Fotograf nicht mehr nach Griechenland, die juristische Verfolgung ist unkalkulierbar, die Einschüchterungen haben gefruchtet. Es ist schwer erträglich, diese menschenverachtende, kriminelle, rassistische, diskriminierende und von höchsten Stellen geduldete und geförderte Politik zur Kenntnis zu nehmen. Gut und wichtig ist es, dass der Westend-Verlag das Thema mit diesem Buch wieder ins Bewusstsein gerückt hat. „Inside Moria“ beleuchtet ergreifende Flüchtlingsschicksale, die an die Nieren gehen, Schmuggler, Korruption, Vergewaltigung auf den Routen in die versprochene Freiheit, bürokratische und gesetzliche Anordnungen, die Tür und Tor öffnen für Willkür, Drangsalierung, Not und Tod. Leider wirkt das Buch oft abstrakt, hölzern, zu wenig anschaulich. Und die Sprache ist öde und in der Übersetzung ungelenk. Ein Jammer bei einem so wichtigen Thema.
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