Über die Literatur kommen sich der Erzähler, ein ausländischer Literaturwissenschaftler, und die Hauptfigur des Romans „Der Magier im Kreml“ näher. Sein Name ist Wadim Baranow. Diese fiktive Figur hat beim Autor Giuliano da Empoli starke Bezüge zu einer realen Person: Wladislaw Surkow, lange Jahre enger Berater Wladimir Putins.
Baranow wie auch der Erzähler schätzen vor allem einen Autor: Jewgeni Samjatin. Dessen Roman „Wir“ aus dem Jahr 1920 erzählt von einer absoluten Schreckensdiktatur. Das Buch wurde unter Stalin verboten. Mittels Tweets kommunizieren die beiden über dieses Werk. Und bald lernt der Erzähler Baranow in Moskau persönlich kennen.
Der Aufstieg Wladimir Putins wird nachgezeichnet
Das Spannende an da Empolis Roman ist, dass er die geschichtlichen Hintergründe von Wladimir Putins Aufstieg nachzeichnet. Das diktatorische Element in Russlands Politik ist dabei prägend. Die Geschichte beginnt bei Wadim Baranows Familie. Sie entstammt dem russischen Adel. Sein Großvater diente treu dem Zaren – sein Vater war ein intellektueller Apparatschik im kommunistischen Staat.
In einem ist sich die Familie einig: Kunst und Literatur Russlands machen dessen Größe aus. Garant für Ruhm und Macht des Landes sind allerdings diktatorische Herrscher – ob Zar oder dessen proletarischer Nachfolger Stalin. Als die UdSSR unter Gorbatschow auseinanderbricht, hat plötzlich der Kapitalismus das Sagen. Manager, Oligarchen beherrschen die Bühne.
Boris Jelzin torkelt über die Bühne – und Bill Clinton lacht
Giuliano da Empoli schildert eine prägende Szene: 1995 – Der herz- und alkoholkranke Präsident Boris Jelzin torkelt während einer Pressekonferenz in Washington. Und Bill Clinton lacht über ihn – unendlich lang. Die Russen daheim erstarrten ob dieser Szene.
Was ist ihr Land noch wert? Einst war man eine Weltmacht – und jetzt ist man bloß ein Hinterhof des Kapitalismus? In dieser Situation kollektiver Unsicherheit betritt einer die Polit-Bühne: Wladimir Putin.
Putin avanciert zum „Heiler“ der sich erniedrigt fühlenden russischen Seele
Giuliano da Empoli zeigt mit viel literarischem und historischem Gespür, wie Putin an die Macht kam, ja, wie folgerichtig sein Aufstieg gewesen ist. Putin avanciert zum „Heiler“ der sich erniedrigt fühlenden russischen Seele. Dabei steht ihm Wadim Baranow als Medienberater zur Seite, er ist Putins „Magier“.
Die Oligarchen Michail Chodorkowski und Boris Beresowski treten im Roman mit Klarnamen auf. Als Medienmogul hat Beresowski wesentlichen Anteil an Putins Aufstieg. Putins Entschlossenheit, ja, dessen Kaltblütigkeit, macht ihn zum idealen Führer einer verunsicherten Nation.
Nach außen hin wird er von Baranow medial zum Vater der Nation stilisiert. Im inneren Machtzirkel wirkt er als unerbittlicher Zar, der belohnt und bestraft. Als 2013 die Maidan-Revolution in der Ukraine ausbricht, sieht Putin den CIA als Drahtzieher. Ab da ist für ihn der eigentliche Feind Russlands der kapitalistische Westen. Der Ukraine-Krieg liegt in der Luft. In dieser Situation nimmt Baranow seinen Abschied.
Erstklassiges literarisches Werk über ein dunkles Kapitel der Zeitgeschichte
Giuliano da Empoli lässt in seinem Roman nicht nur hinter die Mauern des Kremls blicken, sondern er zeigt auch auf, was die russische Seele in Zeiten politischer wie gesellschaftlicher Umbrüche ausmacht. Man sucht eine Leitfigur – und das ist Wladimir Putin, Zar und Diktator in Personalunion. Im Roman „Der Magier im Kreml“ werden die Figuren lebendig – ebenso die geschichtlichen Gegebenheiten.
Da Empoli changiert dabei gekonnt zwischen Bericht und Dialog, zwischen Ernst und schwarzer Ironie. Einen Boxer lehrt man, dass er nicht nur die Schlagtechnik seines Gegners genau studieren soll, sondern auch dessen mentale Verfassung. Genau das leistet Giuliano de Empolis Roman. „Der Magier im Kreml“ ist in diesem Sinne ein erstklassiges literarisches Werk über einen pechschwarzen Abschnitt der Zeitgeschichte.