Autor Gerwin van der Werf und Buccover: Der Anhalter

Buch der Woche

Gerwin van der Werf - Der Anhalter

Stand
Autor/in
Marten Hahn

Mal einen Anhalter mitnehmen – warum denn nicht? Am Straßenrand steht der blonde Isländer Svein. Unbekümmert nehmen die Urlauber Tiddo und Isa ihn mit.

Sie kommen aus den Niederlanden und machen gerade eine Tour durchs raue Island. Doch ihre Ehe kriselt, und durch Sveins Anwesenheit drängen lange verdrängte Probleme umso stärker ans Tageslicht.

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Besuch beim Autor in den Niederlanden

„Hoe gaat het?“ Gerwin van der Werf öffnet lächelnd die Tür – hält aber einen höflichen Sicherheitsabstand. Der Autor wohnt im holländischen Leiden. Die kleine Universitätsstadt mit ihren Windmühlen und Kanälen wurde vom Virus weitgehend verschont.

Viele Läden und Restaurants sind längst wieder offen. Doch die Menschen sind lieber noch vorsichtig.Van der Werf bittet deswegen in den Garten - gut 20 Quadratmeter grüne Ordnung.

Und damit das ganze Gegenteil jener Landschaft, die den Autor zu seinem Roman „Der Anhalter“ inspiriert hat: die Lavafelder auf Island.

Die Landschaft formt die Erzählung

Ich mag Inseln. In meinen Büchern ist der Hintergrund, ist das Land, das ist immer sehr wichtig für mich, denn es gibt mir Ideen. Und es ist wirklich so: Zuerst kommt das Land als Hintergrund. Zweitens kommen die Personen dann hinein. Dann setze ich die Charaktere, die Personen in das Land, und dann geschieht etwas. Die Erzählung kommt dann als drittes.

„Der Anhalter“ gibt im Klappentext vor, eine Mischung aus Reiseroman und Thriller zu sein, ist aber viel mehr als das. Nämlich das Psychogramm eines verzweifelten Mannes.

Im Zentrum der Tragikomödie steht Familienvater Tiddo

In fein ausbalancierter Prosa erzählt Van der Werf die tragikomische Geschichte des Familienvaters Tiddo, der mit einem Urlaub in Island seine Ehe retten will. Wie so viele Menschen glaubt Tiddo, das Reisen allein Probleme lösen kann.

Der Jahresurlaub wird immer als Flucht aus dem normalen Leben verstanden. Dabei lässt man nur die bekannte Umgebung zurück, nicht aber die Beziehungen, die man hat. Die werden im Urlaub eher noch intensiver. Die Werbung erzählt uns immer, dass wir in den Ferien, am Strand, im Sonnenschein bessere Menschen werden. Aber Probleme lassen sich so nicht abschütteln. Dennoch versuchen wir es jedes Jahr auf Neue.

Die Vulkaninsel soll die eingeschlafene Ehe retten

Die Leidenschaft zwischen Tiddo und seiner Frau Isa ist erloschen. Sex haben die beiden schon lange keinen mehr. Und so erhofft sich Van der Werfs Romanheld von der Vulkaninsel eine aphrodisierende Wirkung.

Gemeinsam mit Frau und Sohn rollt Tiddo erst in einem Wohnmobil und später – als die Lage zunehmend eskaliert – in einem Jeep durch Island.

Mit einem Mal sind wir oben. Im Hochland. Eine ungeheure Ebene liegt vor uns, schwarze Berge und dunkelgraue Erde, so weit das Auge reicht. Hier gibt es nichts, nichts, was wächst oder lebt. Asche und erstarrtes Magma aus dem höllischen Inneren eines ruhelosen Erdballs. Die Welt vor ihrer Erschaffung. Allmählich versteht man, warum alle Isländer Gedichte schreiben.

Der Roman ist weit entfernt von einer Autobiografie

Der Autor greift zum Teil auf eigene Erlebnisse zurück. Vor drei Jahren war Gerwin van der Werf selbst mit der Familie in Island, auf Rundreise, mit einem Wohnmobil. Doch damit hören die Gemeinsamkeiten auch schon auf.

Autor Gerwin van der Werf
Autor Gerwin van der Werf

Einige Leuten glauben, dass mein Werk autobiografisch ist. Die lesen das Buch und fragen: Ist deine Ehe wirklich so schlecht? Und da sage ich dann: Du kannst die Hauptperson nicht verwechseln mit dem Autor, bitte. Meine Ehe ist sehr gut! Das ist Fiktion.

Ein geheimnisvoller Anhalter will Tiddo bei seinen Eheproblemen helfen

Im Roman nimmt die Familie nach wenigen Kilometern einen Anhalter mit. Svein ist ein junger, gutaussehender Isländer, der gern und viel redet.

Ganz anders als Tiddo. Der Familienvater hat nichts zu erzählen und beschreibt sich als einen Mann, „der seinen Sohn nicht kennt und für seine Frau zu dumm ist“.

Als Svein anbietet, ihm dabei zu helfen, die Ehe zu retten, willigt Tiddo ein.

Schon bald entwickelt sich Svein zur Bedrohung für die Familie

Tiddo teilt auch so manches intimes Geheimnis mit dem Fremden. Doch was genau Svein antreibt, ist unklar. Die Familie wird den Anhalter kaum noch los. Und er wird zur Bedrohung.

Ich habe ihn als ambivalenten Charakter entwickelt. Ich war selbst unsicher, was für eine Person das ist. Ich habe ihn nicht als gute oder schlechte Figur angelegt. Er sollte sich entwickeln. Aber er wird ganz klar eine böse Person in Tiddos Kopf. Mehr als das. Er wird zum Charakter eines Horrorfilms.

Es war nicht das erste Mal, dass ich mich fragte, ob es Svein Sigurdsson wirklich gab. Er erfand sich sein Leben, während er mit mir sprach. Wegen seines übergroßen Selbstvertrauens musste er in seinen Geschichten nie konsistent sein, er konnte einen Widerspruch nach dem anderen auftischen, ohne je im Unrecht zu sein. Er konnte lügen, ohne zum Lügner zu werden. Er hatte mir die Wahrheit entlockt, der Himmel weiß, wie ihm das gelungen war, aber eines war klar: Ich musste ihn loswerden.

Ob der Anhalter wirklich existiert bleibt ungewiss

Gibt es Svein wirklich? Oder gehört der Anhalter wie Feen und Trolle zum mystischen Personal Islands? Diese Frage stellt man sich auch als Leser gen Ende des Romans immer öfter. Und bald misstraut man nicht nur dem Anhalter, sondern auch Tiddo, dem Erzähler.

Weil Tiddo auch ein Ich-Erzähler ist und unzuverlässig. Das ist schon am Anfang klar, dass ihm nicht ganz zu trauen ist, was er erzählt, was er nicht erzählt. Und das ist auch ein Spiel, das der Autor mit dem Leser spielt.

Tiddo wird zur tragischen Figur

Real oder imaginär, der junge, selbstbewusste Anhalter wird nicht nur zu Tiddos Nemesis, sondern auch zu dessen Vorbild.

Ich will ein Mann werden, der nie lange hin und her überlegen muss, der instinktiv im eigenen Interesse handelt und seine Meinung ändert, sobald es ihm nutzt, der oft einfach daherredet, aber durch seinen Tonfall trotzdem immer recht hat.

Aus Tiddos Selbstmitleid wird Aktionismus – mit verheerenden Konsequenzen. Die Familie gerät in Gefahr. Der Familienvater wird zur tragischen Figur.

van der Werf hält immer einen Witz parat

Auf originelle Weise verhandelt der Roman Themen wie Liebe, Männlichkeit und das Älterwerden. Aber immer dann, wenn es zu dramatisch wird, sorgt Gerwin van der Werfs Witz für Leichtigkeit.

Das ist für mich sehr wichtig. Ein Buch ohne Humor, das kann ich selber kaum lesen. Da soll doch zumindest ein bisschen Luft drin geklopft sein. Aber wenn ich selber schreibe, dann fühle ich da, jetzt soll es da ein bisschen mehr Luft geben, und da soll es einen Witz geben oder etwas Absurdes. Ein absurdes Bild zum Beispiel.

„Der Anhalter“ beinhaltet Leichtfüßigkeit und Tiefsinn gleichermaßen

Und so ist „Der Anhalter“ ein leichtfüßiger und doch tiefsinniger Roman geworden.

Ein Roman über einen Mann, der sein Leben und seine Ehe, dermaßen gegen die Wand fährt, dass ihm auch alle Geister Islands nicht mehr weiterhelfen können.

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Autor/in
Marten Hahn