In fast jeder Familiengeschichte verbirgt sich ein Trauma, das nonverbal als emotionales Erbe an die nachfolgenden Generationen weitergegeben wird. Im Bewusstsein und Körper der Kinder und Enkel kann es sich als Depression, Angst, Wut oder dem Gefühl der Leblosigkeit manifestieren.
Die amerikanische Psychoanalytikerin Galit Atlas kennt das Thema aus ihrem eigenen Leben: Aufgewachsen in Israel als Tochter sephardischer Juden trägt sie ein komplexes Familientrauma aus Vertreibung und Ausgrenzung in sich.
In ihrem Buch „Emotionales Erbe“ verwebt sie die Geschichten ihrer Patientinnen und Patienten mit neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen und eigenen Erfahrungen. Man glaubt, mitten im Sprechzimmer zu sitzen, und verfolgt in den Gesprächen zwischen Therapeutin und Klient, wie sich allmählich das Muster der transgenerationalen Verstrickung herausbildet. Die Lektüre ist spannend wie ein Krimi.
Unverarbeitete Erlebnisse unserer Vorfahren, schreibt Atlas, dringen wie Geister in unser Leben ein. Sie erzählt von Leonardo, der seit zwei Jahren um die Trennung von seinem Partner trauert. Sein Großvater hatte Suizid begangen, und sein Vater war lebenslang verstört, weil er sich die Schuld an diesem Tod gab.
Im Verlauf der Therapie findet Leonardo heraus, dass sein Großvater – wie er selbst - schwul gewesen und seinen Geliebten verloren hatte. Die als skandalös geltende Liebe des Großvaters wurde im Familienverbund totgeschwiegen und nicht als Verlust betrauert. Erst dem Enkel fiel die Aufgabe zu, mit seiner Trauerarbeit um den eigenen Partner die Geister zu erlösen.
Wenn Eltern ihre Traumata nicht bewusst verarbeitet haben, ist es an den Kindern, dies für sie zu leisten. Galit Atlas erzählt von Noah, der zwanghaft Todesanzeigen studiert und sich als Kind einbildete, einen Zwillingsbruder gehabt zu haben. Seine Mutter wurde darüber wütend und nannte es seine „bizarre Fantasie“. Während er in Therapie ist, stirbt die Mutter, und Noah erfährt die Wahrheit: Die Eltern hatten einen Sohn, der ein Jahr vor Noahs Geburt starb und ebenfalls Noah hieß.
Wir kennen die Geheimnisse derer, mit denen wir verbunden sind, schreibt Galit Atlas. Wir leben das Totgeschwiegene aus mit unseren Körpern und Gefühlen und führen eine unbewusste Kommunikation mit unseren Vorfahren, ohne dies zu wollen oder zu wissen.
Das letzte Kapitel des Buches handelt davon, den Teufelskreis zu durchbrechen, um unseren Kindern einen unbelasteten Weg ins Leben zu ermöglichen. Alice kann nicht schwanger werden und lässt das Ei einer fremden Frau von einer Leihmutter austragen. Wird sie ihr Kind, mit dem sie gar nicht verwandt ist, lieben können, obwohl sie innerlich noch immer das kleine Mädchen ist, das vom Vater verlassen wurde?
Psychoanalyse ist Detektivarbeit: Scheinbare Zufälle und Verhaltensweisen werden auf ihren Symbolgehalt hin untersucht und enthüllen erstaunliche Zusammenhänge. Was verbirgt Guy, der vor der ersten Stunde das Privatleben seiner Analytikerin ausspioniert hat? Warum bricht Jon nach der Geburt seiner Tochter zusammen und sieht einen Zusammenhang mit dem Tod seiner Schwester, an die er sich gar nicht erinnern kann?
Das großartige Buch von Galit Atlas ist eine Einladung, sich mutig und mit emphatischer Begleitung den Geistern der Vergangenheit zu stellen und das Familien-Trauma im eigenen Körper und Geist zu durchleben, damit sich der Weg in die emotionale Freiheit öffnet.
Aus dem Englischen von Monika Köpfer
Dumont Verlag, 256 Seiten, 24 Euro
ISBN 978-3-8321-8290-8