Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat nicht ahnen können, wie sehr die Kriege in Nahost, in der Ukraine, im Sudan und anderswo die Welt in Unruhe versetzen. Und doch schrieb Erasmus 1517 ein Traktat für den Frieden, das zu einem Klassiker des politischen Denkens wurde - zeitlos, aufrüttelnd, unbequem.
Seit fast drei Jahren schienen die Europäer von allen guten Geistern verlassen: Zu Millionen brachten sie sich gegenseitig um, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Da trat der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ans Rednerpult des Reichstages und warb für den Frieden.
Der Frieden spricht selbst
Philipp Scheidemann brachte auf den Punkt, was Erasmus von Rotterdam genau 400 Jahre zuvor geschrieben hatte: in seiner Klage des Friedens. Auf gut 70 Seiten lässt Erasmus den Frieden selbst sprechen, in der ersten Person Singular.
Der Friede argumentiert auf drei Ebenen: Aus Sicht eines kühl berechnenden Menschen sei es unsinnig, Krieg zu führen - denn ein Krieg koste auch den Sieger nur Geld. Aus ethischer Sicht erklärt Erasmus den Krieg für verwerflich – denn nicht einmal Tiere ein und derselben Art brächten sich gegenseitig um. Vor allem aber argumentiert Erasmus auf Basis des Neuen Testaments mit seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Wenn jemand Krieg führe - was habe er dann noch beim Abendmahl zu suchen?
Aggressoren rechtzeitig vorbeugen
Ausgewichen ist Erasmus freilich der Frage, warum denn christliche Länder Krieg etwa gegen muslimische führten. Kein Wort dazu – nicht einmal der Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu selbst gegenüber den Menschen, die ihn seinerzeit schroff ablehnten. Wie sich ein Land verhalten solle, das von einem anderen angegriffen wird – dazu bleibt Erasmus schmallippig: er wünscht sich, der Aggressor möge in die Schranken gewiesen werden. Noch besser aber, wenn man frühzeitig vorbeugt:
Krieg sei also zu verhindern, konstatiert Erasmus, indem man zwei, drei Schritte vorausdenke: Wo könnte sich künftig Konfliktpotential zusammenbrauen – und wie macht man diesen Zündstoff möglichst schnell unschädlich?
Auf Gegenwart übertragbar
Auf heutige Denkansätze der internationalen Politik übertragen, redet der ziemlich pragmatische Erasmus gerade nicht einem blinden Idealismus das Wort – der würde im Interesse seiner hehren Grundsätze mit dem Kopf durch die Wand wollen. An solche Staatslenker, die sich partout im Recht glauben, wendet sich Erasmus unmittelbar:
Erasmus' Ansatz lässt sich also bis in die Gegenwart weiterspinnen: hin zum Neorealismus - einer Denkrichtung, die unter dem Eindruck der beiden Weltkriege entstand. Neorealismus kalkuliert ein, dass Staaten nun einmal gegensätzliche Interessen haben. Er versucht, sie auszubalancieren, bevor es zu spät ist. Wohl der beste Weg, um die unübersichtliche Welt von heute zu befrieden. Und da erscheint die Klage des Friedens des Erasmus von Rotterdam in dieser modern übersetzten Neuedition vielleicht genau zur richtigen Zeit.
Mehr zu Erasmus von Rotterdam
Porträt Erasmus von Rotterdam
In "Das Lob der Narrheit" macht sich der niederländische Philosoph und Theologe Erasmus von Rotterdam (1464-1536) lustig über den Zeitgeist. Hilft Humor als Waffe gegen Intoleranz?
Erasmus von Rotterdam und Martin Luther
Erasmus von Rotterdam gilt neben Philipp Melanchthon als der bekannteste Humanist seiner Zeit. Mit seiner Bibelübersetzung ins Griechische legte der „doctor universalis“, Europäer und große Gelehrte das Fundament für die Reformation und ebnete den Weg für Martin Luther. Auf seiner griechischen Erstausgabe aus dem Jahr 1516 basiert die deutsche Übesetzung des Neuen Testaments von Luther, die dieser in nur elf Wochen vollendete. Doch während Luther die Kirche revolutionieren wollte, beabsichtigte Erasmus von Rotterdam die Kirchenspaltung zu verhindern. Zunächst nicht in der Sache, aber durch Differenzen in der Vorgehensweise, kam es zum Bruch zwischen den beiden Gelehrten. Anders als Luther brach der Kosmopolit Erasmus nicht vollständig mit der römisch-katholischen Kirche und blieb Katholik.
Buchkritik Desiderius Erasmus von Rotterdam - Der sprichwörtliche Weltbürger
Antike Weisheiten durch die Brille des großen Humanisten Erasmus von Rotterdam, neuerdings auch Namensgeber einer AfD-nahen Stiftung.|
hg. Von Wolfgang Hörner und Tobias Roth, übersetzt von Tobias Roth und Theresia Payr, Verlag das kulturelle Gedächtnis, 96 Seiten, 10 Euro.|
Anja Höfer im Gespräch mit Wolfgang Hörner.