Buchkritik

Erasmus von Rotterdam – Die Klage des Friedens

Stand
Autor/in
Michael Kuhlmann
Der Autor, Musikredakteur und Buch-Rezensent Michael Kuhlmann.

Der Humanist Erasmus von Rotterdam hat nicht ahnen können, wie sehr die Kriege in Nahost, in der Ukraine, im Sudan und anderswo die Welt in Unruhe versetzen. Und doch schrieb Erasmus 1517 ein Traktat für den Frieden, das zu einem Klassiker des politischen Denkens wurde - zeitlos, aufrüttelnd, unbequem.

Seit fast drei Jahren schienen die Europäer von allen guten Geistern verlassen: Zu Millionen brachten sie sich gegenseitig um, zu Lande, zu Wasser und in der Luft. Da trat der SPD-Politiker Philipp Scheidemann ans Rednerpult des Reichstages und warb für den Frieden. 

Ich halte es für die Pflicht aller klar und ruhig Denkenden in allen Ländern, dieses Spiel, das da mit Völkerleben gespielt wird, aufzudecken! Den Regierungen aller Länder zuzurufen: Es ist genug! 

Der Frieden spricht selbst

Philipp Scheidemann brachte auf den Punkt, was Erasmus von Rotterdam genau 400 Jahre zuvor geschrieben hatte: in seiner Klage des Friedens. Auf gut 70 Seiten lässt Erasmus den Frieden selbst sprechen, in der ersten Person Singular.

Der Friede argumentiert auf drei Ebenen: Aus Sicht eines kühl berechnenden Menschen sei es unsinnig, Krieg zu führen - denn ein Krieg koste auch den Sieger nur Geld. Aus ethischer Sicht erklärt Erasmus den Krieg für verwerflich – denn nicht einmal Tiere ein und derselben Art brächten sich gegenseitig um. Vor allem aber argumentiert Erasmus auf Basis des Neuen Testaments mit seinem Aufruf zur Gewaltlosigkeit. Wenn jemand Krieg führe - was habe er dann noch beim Abendmahl zu suchen? 

Darf jemand wagen, zu jenem heiligen Tisch heranzutreten, zum Mahle des Friedens, der einen Krieg gegen Christen plant und sich anschickt, die zu vernichten, für deren Rettung Christus gestorben ist? 

Aggressoren rechtzeitig vorbeugen

Ausgewichen ist Erasmus freilich der Frage, warum denn christliche Länder Krieg etwa gegen muslimische führten. Kein Wort dazu – nicht einmal der Hinweis auf die Gewaltlosigkeit Jesu selbst gegenüber den Menschen, die ihn seinerzeit schroff ablehnten. Wie sich ein Land verhalten solle, das von einem anderen angegriffen wird – dazu bleibt Erasmus schmallippig: er wünscht sich, der Aggressor möge in die Schranken gewiesen werden. Noch besser aber, wenn man frühzeitig vorbeugt: 

Die höchste Ehre erweise man denen, die einen Krieg verhindert und die Eintracht wiederhergestellt haben – schließlich auch dem, der alle Hebel in Bewegung setzt nicht dafür, daß er eine riesige Streitmacht auf die Beine stellt, sondern dafür, daß er ihrer gar nicht bedarf.

Krieg sei also zu verhindern, konstatiert Erasmus, indem man zwei, drei Schritte vorausdenke: Wo könnte sich künftig Konfliktpotential zusammenbrauen – und wie macht man diesen Zündstoff möglichst schnell unschädlich?

Auf Gegenwart übertragbar

Auf heutige Denkansätze der internationalen Politik übertragen, redet der ziemlich pragmatische Erasmus gerade nicht einem blinden Idealismus das Wort – der würde im Interesse seiner hehren Grundsätze mit dem Kopf durch die Wand wollen. An solche Staatslenker, die sich partout im Recht glauben, wendet sich Erasmus unmittelbar: 

Meinst du vielleicht, es falle dir ein Zacken aus deiner Krone, wenn du eine Rechtsverletzung nachsiehst? Nein, im Gegenteil, es gibt keinen zwingenderen Beweis für eine niedere und ganz und gar unkönigliche Gesinnung, als Rache zu üben. Wenn nun der Frieden irgendeinen in deinen Augen ungerechten Punkt zu enthalten scheint, so denke ja nicht gleich: Das und das verliere ich, sondern: Um diesen Preis erkaufe ich den Frieden.

Erasmus' Ansatz lässt sich also bis in die Gegenwart weiterspinnen: hin zum Neorealismus - einer Denkrichtung, die unter dem Eindruck der beiden Weltkriege entstand. Neorealismus kalkuliert ein, dass Staaten nun einmal gegensätzliche Interessen haben. Er versucht, sie auszubalancieren, bevor es zu spät ist. Wohl der beste Weg, um die unübersichtliche Welt von heute zu befrieden. Und da erscheint die Klage des Friedens des Erasmus von Rotterdam in dieser modern übersetzten Neuedition vielleicht genau zur richtigen Zeit. 

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