Buchkritik

Die ganze Welt im Kleinen: „Der Chor“ von Anna Katharina Hahn

Stand
Autor/in
Silke Arning
Moderatorin Silke Arning

Es sind die unterschiedlichsten Frauen, die sich einmal in der Woche zur Chorprobe in einer Kirche treffen: von der erfolgreichen Personalchefin bis zur alleinerziehenden Putzfrau. Mit nüchternem Blick nimmt Anna Katharina Hahn die Beziehungen ihrer Heldinnen unter die Lupe, die sich in Abhängigkeiten, Lügen und unerfüllte Leidenschaften verstrickt haben. Dabei verhandelt sie meisterlich auch die ganz großen Probleme.

Menschliche Zwischentöne im Frauenchor

Alice ist der Typ erfolgreiche Business-Frau, das Leben an der Seite von Ehemann Fred, einem Steuerberater, ist bestens organisiert. Vor einiger Zeit schon ist sie ins Schwäbische gezogen, was sie mit Lena verbindet, die allerdings etliche Jahre älter, bereits über 80, ist.

Es gibt noch andere Gemeinsamkeiten: Beide sind kinderlos geblieben, dann ist da die Liebe zu Literatur und Kunst, vor allem aber das gemeinsame Singen im Chor.

Bei den „Cantarinen“, einem reinen Frauenchor, haben sie sich kennengelernt und im Laufe der Zeit eine kleine verschworene Gemeinschaft geschmiedet gegen die überwiegend schwäbisch daherdonnernden Mitsängerinnen.

Unterschiedliche Frauen verschiedener Generationen treffen sich beim Singen

Anna Katharina Hahn singt selbst zwar nicht, hat aber den Chor über etliche ihrer Freundinnen als spannendes, literarisches Untersuchungsfeld für sich entdeckt: „Das Chorumfeld bietet nicht nur Musikbegeisterung, Interesse für Musik, für Lieder, für gemeinschaftliches Singen, sondern vor allem für die menschlichen Zwischentöne“, sagt sie.

Und davon gibt es reichlich. Vor allem als eine junge Studentin eines Abends bei der Chorprobe auftaucht, eine sehr schüchterne junge Frau, von der sich Alice auf geradezu magische Art und Weise angezogen fühlt.

Was man anfangs als besorgtes Mutterverhalten interpretieren könnte, nimmt bald merkwürdig obsessive Züge an. Nach und nach stellt sich heraus, dass die toughe Personalchefin innerlich zerrissen, auch einsam ist. Und das wiederum hängt mit einer anderen Chorschwester zusammen, mit Marie.

Anna Katharina Hahn hat mit dem „Chor“ gleich einen ganzen Reigen unterschiedlichster Frauen verschiedener Generationen aufs Gleis gesetzt: Marie, die ehemals beste Freundin, Cora, die alleinerziehende Putzfrau und dann ist da noch die geheimnisvolle, exzentrische Talitha. 

Es gibt so viele großartige Beziehungen zwischen Frauen, die keine Liebesbeziehungen im sexuellen Sinne sind und trotzdem fast die Komponenten einer amour fou haben.

Sehr präzise lotet Anna Katharina Hahn die Untiefen ihrer Heldinnen aus und bewahrt sich dabei stets einen kühlen Blick.

Die allwissende Erzählerin zu sein, die ihren Figuren sogar in den Kopf schaut – das lehnt sie ab. Sie lässt ihre Frauen selbst erzählen: über sich. Mal in märchenhaften Sequenzen, dann in traumartigen Bildern.

Alles andere als eine schwäbische Heimatgeschichte

Das hat naturgemäß sprachlich eine andere Qualität, klingt verwunschen, rätselhaft. Und wieder einmal bringt die Autorin es fertig, Stuttgart mit anderen Augen zu sehen.

„Ich werde wahrscheinlich Stuttgart nicht los und es macht mir sehr viel Freude auch zu verfremden und die Leserinnen und Leser an Orte zu führen, die sie glauben zu kennen und dann in die Irre laufen zu lassen. Und natürlich ist es auch eine Herausforderung, eine Stadt, die von vielen Menschen im Land als hässlich und unsympathisch gesehen wird, als einen magischen Ort dazustellen – daran habe ich sehr viel Freude“, sagt die Autorin.

Doch wie schon in ihrem Vorgängerroman verlässt die Autorin auch in ihrem neuen Buch den Stuttgarter Talkessel, um an einen anderen Schauplatz, in diesem Fall nach Paris, zu wechseln.

Der Roman ist eben alles andere als eine schwäbische Heimatgeschichte: „Der Chor“ ist ein herrlich vertrackter Minikosmos menschlicher Tragödien und Leidenschaften, in dem letztlich die ganze Welt verhandelt wird. Und das ist einfach großartig erzählt. 

 

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