Eine debattenarme Frankfurter Buchmesse, ein wütender Schriftsteller und eine Friedenspreisträgerin, deren Werk zu wichtigen Diskussionen nicht nur im deutschen Buchbetrieb führen müsste.
Ein großer Vorteil der Friedenspreisträgerin 2024 Anne Applebaumm ist ihre intellektuelle und sprachliche Klarheit. Niemand wird Anne Applebaums Thesen umdeuten oder gar ins Gegenteil verdrehen können.
Es geht ihr in ihrer historischen Forschung und publizistischen Arbeit immer darum, die Ursprünge, Strategien und Folgen totalitärer Herrschaft zu beschreiben. Die Titel ihrer Bücher lauten: „Der Gulag“, „Der Eiserne Vorhang“, „Roter Hunger – Stalins Krieg gegen die Ukraine“, „Die Verlockung des Autoritären“ und „Die Achse der Autokraten“.
Widmete sich Appelbaum zunächst der sowjetischen Diktatur, beschreibt sie nun die internationale Kooperation autoritärer Staaten, die westliche Demokratien zerstören wollen.
Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft
Eine Schlüsselrolle in diesem Angriff auf demokratische Strukturen spiele – wie Applebaum auch in ihrer Friedenspreisrede ausführt – das gegenwärtige Regime in Russland, dem es um „die Durchsetzung autoritärer Willkürherrschaft“ gehe.
Die russische Annexion der Krim 2014, der Überfall auf die Ukraine 2022 und viele andere Militäroperationen Russlands hätten zudem den Weg geebnet „für eine schärfere Politik in Russland selbst“.
Die Opposition sei unterdrückt und unabhängige Einrichtungen vollständig verboten worden. Verhältnismäßig neu sei eine Zusammenarbeit autoritärer Staaten wie Iran, China, Nordkorea und Russland, die es laut Applebaum längst schaffen, die Meinungsbildung in westlichen Ländern zu manipulieren.
Friedenspreisträgerin kritisiert naiven Pazifismus
Die Friedenspreisträgerin 2024 ist keine Pazifistin. So bezieht Applebaum in der Frankfurter Paulskirche deutlich Stellung auch zu aktuellen Debatten in Deutschland.
Denn wer ihrer Meinung nach „‚Pazifismus fordert und nicht nur Gebiete an Russland abtreten will, sondern auch Menschen, Prinzipien und Ideale, der hat rein gar nichts aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt.“
Sie warnt vor Leuten, die vom Sowjetstaat ausgebildet und nun bereit seien, eine „vertraute Mischung aus Terror, Täuschung und militärischer Gewalt einzusetzen, um an der Macht zu bleiben“.
Feine Linie, die Wahrheit und Lüge trennt
In ihrer Laudatio auf Applebaum hat die russische Germanistin und Mitbegründerin der Menschenrechtsorganisation „Memorial“ die Rolle Anne Applebaums als Historikerin und öffentliche Intellektuelle gewürdigt, die darin bestünde, „sicherzustellen, dass die feine Linie, die die Wahrheit von der Lüge in der Vergangenheit und in der Gegenwart trennt, bestehen bleibt.“
Kein Wunder, dass George Orwell in der Feierstunde zur Verleihung des Friedenspreises oft zitiert wurde. Applebaum sprach in ihrer Dankesrede von einem Kampf gegen die „schleichende Anziehungskraft der Autokratie, die bisweilen im Gewand einer verlogenen Sprache des ‚Friedens‘“ daherkomme.
Wichtige Rede zum Abschluss eine ansonsten debattenarmen Buchmesse
Die eindringliche Ansprache Applebaums wurde mit stehenden Ovationen bedacht. Es war eine wichtige Rede zum passenden Zeitpunkt; sie überstrahlte die ansonsten debattenarme Buchmesse.
Gespräch Nummer eins war in diesem Jahr weder der fortwährende Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine noch die Bedrohung der israelischen Demokratie durch islamistische Terrorgruppen und Diktaturen.
In den Messehallen ging es zumeist um die unflätigen Kommentare von Clemens Meyer, der sich in zahlreichen Interviews während der Messe beschwerte, dass ihm und seinem Monumentalwerk „Die Projektoren“ der Deutsche Buchpreis nicht zugesprochen worden war.
Statt über den verständlichen Frust hinwegzusehen, schienen Feuilleton und Publikum gleichermaßen sich an Meyers Verbalinjurien zu delektieren. Was ein Armutszeugnis.
Der Kritik folgt keine Selbstkritik
Dabei hätte das publizistische Werk der Friedenspreisträgerin genug Anlass für wichtige und wirklich kontroverse Diskussionen auf der Messe geben können.
Im Grunde könnten ihre Thesen vom hybriden Krieg autoritärer Staaten, die demokratische Bühnen nutzen, um die Demokratie zu zerstören, auch als Aufforderung zur Selbstkritik verstanden werden.
Denn die Verantwortlichen der Frankfurter Buchmesse machen seit Jahren immer wieder Diktaturen zu Ehrengästen, stets mit der wohlfeilen Hoffnung, die Diskussionen auf der Messe würden Debattenräume oder gar Demokratisierungsprozesse in den jeweiligen Ländern in Gang setzen.
Autoritäre Staaten zu Gast auf der Buchmesse
2009 war China Ehrengast, 2003 wurde Russland als Gastland auf die Frankfurter Buchmesse geladen, und zwar mit finanzieller Unterstützung von Staatsbetrieben, die inzwischen als Kriegstreiber verurteilt werden, wie etwa der russische Energiekonzern Gazprom.
Nachdem Russland in Tschetschenien Krieg geführt, kurz vor der Buchmesse die tschetschenische Opposition endgültig ausgeschaltet und am 5. Oktober 2003 Scheinwahlen in dem besetzten Land durchgeführt hatte, durften sich die Abgesandten Putins unter dem mehrdeutigen, aber völlig inhaltsfreien Motto „Neue Seiten“ in Frankfurt feiern lassen.
Eine Aufarbeitung dieser eher dunklen Seite der jüngeren Buchmesse-Vergangenheit wäre folgerichtig, wenn denn die Friedenspreisrede von Anne Applebaum ernstgenommen würde.
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