Sieg, Niederlage, Befreiung, Untergang – es ist ein Taumel widerstreitender Gefühle, der Süditalien im Herbst 1944 heimsucht. Curzio Malapartes Neapel-Roman „Die Haut“, frisch übersetzt von Fran Heibert, zieht in den Bann als düstere Zeitdiagnose und Meisterwerk wahrhaftiger Übertreibungskunst.
Neapel ist die erste große europäische Stadt, die vom Faschismus befreit wird. Am 1. Oktober 1943 treffen die Amerikaner dort ein. Und bringen die „Pest“. Es ist eine Krankheit, die nicht den Körper, sondern die Seele zersetzt.
Das faschistische Italien hat den Krieg mit den Deutschen „ruhmreich verloren“, wie es höhnisch heißt, um ihn an der Seite der Alliierten doch noch zu gewinnen. Neapel verwandelt sich in ein modernes Sodom und Gomorrha.
Jede Frau scheint sich für eine Schachtel Zigaretten zu prostituieren, Väter bieten ihre Töchter für eine Dose corned beef den stämmigen Schwarzen Soldaten feil, die in der vorzüglichen Neuübersetzung von Frank Heibert nun nicht mehr mit dem N-Wort benannt werden. Aber ungeachtet der sprachlichen Korrektur: Es sind grelle, abgeschmackte, aber auch literarisch packende Szenen.
Diese ekelhafte Haut
Der Titel „Die Haut“ steht für die schlichte Tatsache, dass Menschen in Kriegszeiten vor allem eins zu retten versuchen:
Irritierend und faszinierend ist der Aggregatzustand des Romans zwischen festen Tatsachen, flüssiger Kriegs-Kolportage und gasförmiger Phantastik. Soll man es denn glauben, dass noch während der Kämpfe die „sehnsüchtigen Scharen“ der Homosexuellen ganz Europas ihren Weg durch die deutschen Linien finden, um in Neapel mit den amerikanischen Soldaten Party zu machen?
Unter dem Vulkan
Soll man es glauben, dass zu allem Übel der Vesuv ausbricht, auch wenn das Inferno so anschaulich beschrieben wird, als wäre Malaparte einst schon in Pompeji dabei gewesen? Man muss wohl, denn im Frühjahr 1944 fand tatsächlich der letzte Ausbruch des Vulkans statt, bei dem achtzig Bomber der US-Air Force zerstört wurden. Und so stellt man es erst gar nicht in Frage, wenn Malaparte den banausischen O-Ton eines amerikanischen Generals wiedergibt, der beim Einmarsch in Rom erstmals das Kolosseum zu Gesicht bekommt:
Der „Clash“ der Zivilisationen wird als große Komödie inszeniert. Neapel, die „geheimnisvollste Stadt Europas“, ist für Malaparte, den mit allen Sümpfen vertrauten Moralisten, jedoch nicht zu begreifen mit hygienischer amerikanischer Vernunft.
Poetik der Verunsicherung
Der Erzähler setzt das europäische Grauen in Szene, etwa in den Beschreibungen erhängter Juden in der Ukraine, gespenstisch wispernd im „schwarzen Wind“, oder bei der Schilderung der Höllenqualen der phosphorverklebten Menschen im bombardierten Hamburg. Für Malapartes dunkle Komik steht dagegen das Kapitel über ein Abendessen bei General Cork, wo die Gäste durch die aufgetischte Speise stark verunsichert werden:
„In Wahrheit“ handele es sich um einen seltenen, im Aquarium von Neapel gefangenen Sirenenfisch. Die Poetik der Verunsicherung hat Malaparte in dieser genialen Szene allegorisch verdichtet: Ist es ein Fisch? Ist es ein Mädchen? „Die Haut“ wurde vom Vatikan auf den Index gesetzt, die Stadt Neapel verhängte einen Bann über den Autor. Heute liest man das fesselnde Buch als düstere Zeitdiagnose und Meisterwerk wahrhaftiger Übertreibungskunst.
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