SWR2 lesenswert Kritik

Cordelia Edvardson – Gebranntes Kind sucht das Feuer

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider

Cordelia Edvardsons autobiographischer Roman „Gebranntes Kind sucht das Feuer" ist ein wichtiges literarisches Dokument des Holocausts. Zudem erzählt er die Geschichte einer historisch hoch belasteten Mutter-Tochter-Beziehung. Denn Edvardson war die Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, der zuliebe sie ins KZ ging.

Cordelia Edvardson war die uneheliche Tochter der Schriftstellerin Elisabeth Langgässer, deren Stellung im Dritten Reich ambivalent war: Langgässer war Halbjüdin und dennoch anfangs Hitler-Anhängerin. Sie hatte Publikationsverbot. Die erste Hälfte von Edvardsons autobiographischem Roman liest sich als sensible Beschreibung einer Berliner Kindheit im Zeichen wachsender Verunsicherung. Cordelias Vater ist ein jüdischer Jurist, deshalb ist sie als sogenannte „Volljüdin“ gefährdet. Um diese Herkunft gibt es viel Geheimniskrämerei.

Elisabeth Langgässer inszeniert eine unbeschwerte Kindheit

Das bei der Mutter aufwachsende Mädchen ist stolz auf deren Schriftstellerei und Märchenerzählkunst, begreift aber nicht, warum sie in der Öffentlichkeit von ihren Publikationen nicht reden soll. Unverständlich für sie auch, dass ihre Begeisterung für den BDM zuhause harsch abgeblockt wird. Elisabeth Langgässer versucht, eine unbeschwerte katholische Kindheit zu inszenieren, aber Cordelia spürt immer deutlicher, dass sie ein Stigma trägt und der Boden unter ihr schwankt.

Um sie vor der Deportation zu retten, lässt die Mutter sie von einem spanischen Ehepaar adoptieren und verschafft ihr so die spanische Staatsbürgerschaft. Die Gestapo droht Langgässer daraufhin allerdings eine Anklage wegen Hochverrats an, falls die Tochter nicht die doppelte Staatsbürgerschaft akzeptiert, wodurch sie wieder unter die deutschen Rassengesetze fiele. In einer perfiden Zwickmühlen-Szene im Berliner Gestapo-Hauptquartier sieht die Vierzehnjährige den „stummen Schmerz“ in den Augen ihrer Mutter. Cordelia akzeptiert, schützt die Mutter und stimmt damit ihrer eigenen Deportation zu, zunächst nach Theresienstadt, dann nach Auschwitz, wo sie für Josef Mengele Listen führt.

Cordelia opfert sich für ihre Mutter und geht ins KZ

Das Verhalten der Mutter hat etwas von Verrat. Es ist eine tief verankerte Moral, dass sich Eltern für ihre Kinder opfern, nicht umgekehrt. An einer Stelle beschreibt Edvardson, wie eine Frau in Auschwitz aufgefordert wird, ihre kleine Tochter im Stich zu lassen, um sich selbst zu retten. Diese Mutter weigert sich und geht gemeinsam mit der Tochter in die Gaskammer – „und das Kind trabt vertrauensvoll neben ihr her“, heißt es unmissverständlich. Allerdings können wir es uns heute nicht so einfach machen mit einer Verurteilung. Daniel Kehlmann wirft Langgässer im Nachwort Narzissmus und Egozentrik vor. Die Drohung eines Hochverratsprozesses mitten im Krieg war aber sehr ernst zu nehmen. Zudem hatte Langgässer noch kleine Kinder aus ihrer Ehe. Sollte sie die im Stich lassen? Sie musste selbst ab 1942 in Berlin Zwangsarbeit leisten und starb mit nur 51 Jahren an einer schweren Krankheit. Auch ihr Schmerz wiegt schwer.

Den Holocaust überleben

Cordelia überlebte Auschwitz und arbeitete später als Journalistin in Schweden und Israel. Die während der Kindheit verunsicherte, ausgehöhlte, im Lager dann geradezu ausgelöschte Identität wieder zusammenzusetzen – das war eine Aufgabe fürs Leben. Es empörte Edvardson, wie leichtfertig die Deutschen über das Tagebuch der Anne Frank „schluchzten“. „Katharsis zu einem viel zu billigen Preis“, lautete ihr Urteil. Ebenso ehrlich beschreibt sie, wie sie später in guten Restaurants bisweilen aufspringen wollte, um zu rufen: „Ich bin hier! Ich, die ich voller Läuse und Krätze in Auschwitz an einer rohen Kartoffelschale genagt habe bin hier und lasse den Wein zurückgehen, wenn er nicht die richtige Temperatur hat.“

Edvardsons lakonische, zugleich bildstarke und expressive Sprache kommt dank der Neuübersetzung von Ursel Allenstein nun auch auf Deutsch zur Geltung. „Gebranntes Kind sucht das Feuer“ ist nicht nur ein wichtiges literarisches Dokument des Holocausts aus dezidiert weiblicher Perspektive. Durch die erzählerische Verschränkung mit der historisch hoch belasteten Mutter-Tochter-Beziehung gewinnt das Buch auch eine besondere Komplexität. Kindheit in Berlin und Jugend in Auschwitz sind hier auf beklemmende Weise verbunden.

Platz 1 der SWR Bestenliste Oktober 2023 Cordelia Edvardson: Gebranntes Kind sucht das Feuer

Cordelia Edvardson, geboren 1929, war vierzehn Jahre alt, als sie nach Auschwitz deportiert wurde. Ihr 1986 erschienenes Buch liegt nun in einer Neuübersetzung vor. Es zählt zu den bedeutenden Erinnerungsbüchern aus der NS-Zeit.

Diskussion mit vier Büchern SWR Bestenliste Oktober mit Büchern von Cordelia Edvardson, Emma Cline u.a.

Aus der Bestenliste-Jury diskutieren die Literaturkritiker*innen Julia Schröder, Gerrit Bartels und Dirk Knipphals über Bücher von Tim Staffel, Maxim Biller, Emma Cline und Cordelia Edvardson.

SWR Bestenliste SWR2

Stand
Autor/in
Wolfgang Schneider