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Cal Flyn – Verlassene Orte. Enden und Anfänge in einer menschenleeren Welt

Stand
Autor/in
Ulrich Rüdenauer

Was passiert mit Orten, die von Menschen aufgegeben und vollkommen der Natur überlassen werden? Wie erobern sich Pflanzen und Tiere selbst kontaminierte Landschaften zurück? Und was heißt das für unser Verhältnis zur Natur? Das sind nur drei der Fragen, die Cal Flyn in ihrer überraschenden, genauen und blendend erzählten Erkundung „Verlassener Orte“ zu beantworten sucht.

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Es sind Orte, die an Tarkowskis postapokalyptische Landschaft in seinem Film „Stalker“ denken lassen. Gegenden, die von Katastrophen heimgesucht und fortan für die so genannte Zivilisation aufgegeben wurden.

Von Menschenhand verseuchte Gebiete, in denen Giftrückstände oder strahlender Atommüll vermeintlich alles Leben ausgelöscht haben. Dem Lauf der Natur überlassene, ehemals bewohnte Inseln, auf denen nun einst domestizierte Nutztiere von Generation zu Generation mehr verwildern.

Verlassene Orte offenbaren die ganze Kraft der Natur

Kurz: Es sind „Verlassene Orte“, um die man eigentlich einen Bogen macht, die aber für die schottische Essayistin Cal Flyn geradezu atemberaubende Offenbarungen bereithalten: nicht nur über den Umgang von uns Menschen mit der Welt, sondern auch über die unterschätzten Kräfte der Natur, sich das Verlorene zurückzuerobern, sich zu regenerieren, sich an die von uns geschaffenen Gegebenheiten anzupassen.

Nicht vom „Reiz des Ursprünglichen“ wolle sie schwärmen, schreibt Cal Flyn gleich zu Beginn ihrer faszinierenden Erkundungsreisen. Es geht um Rückverwilderungen und stetigen Wandel, um die verstörende Schönheit kaputter Landschaftszonen, die zu wundersam fruchtbaren Böden für etwas Neues und Unerwartetes werden.

Cal Flyn fährt an all diese Orte: in das Sperrgebiet von Tschernobyl; in ein Niemandsland zwischen Nato-Drahtzäunen, wo alte Militärmaschinen vor sich hin rosten; zu einer arsenvergifteten Lichtung, auf der kein Baum mehr wächst; nach Verdun, wo der Boden Belastungen ausgesetzt ist, die 10.000 Jahre natürlicher Erosion gleichkommen; in vegetationslose Gebiete, die sich wie Narben in ansonsten üppig bewaldeten Gebieten ausnehmen, bis hin zu einem sterbenden Salzsee.

Sie ist in Europa unterwegs und in den USA, und überall tut sich Erstaunliches auf: Sie nennt ihr Buch eine Geschichte darüber,

dass es an einem bis zur Unkenntlichkeit veränderten Ort, wo jede Hoffnung verloren scheint, vielleicht doch noch Potenzial für eine andere Form von Leben gibt

Faszinierende Erneuerungsprozesse

Dabei handelt es sich stets um Erneuerungsprozesse, nicht um Wiederherstellung. Und diese Erneuerung gelingt am besten dort, wo der Mensch sich vollkommen zurückzieht und nicht mehr hineinpfuscht.

Füchse und Bären kehren in Gegenden zurück, aus denen sie längst verbannt waren. Auf Schiefersplitter-Kippen, die wie eine sterile Wüste wirken, siedeln sich plötzlich filigrane Laubflechten an, die sich zu korallenriffartigen Verbänden zusammenfinden, dann folgen irgendwann Wildblumen und tiefwurzelnde Gräser.

Große Waldflächen wachsen nach, wo Wälder gerodet wurden und Brachland entstanden war; es finden Verjüngungsprozesse statt, solange der Mensch nicht eingreift – ein unermesslicher CO2-Speicher kann so entstehen. Aufgelassene Straßenzüge in der im Niedergang begriffenen Stadt Detroit werden sorgsam zurückerobert.

Und selbst jene Orte, die man menschenverlassen nennen könnte, ziehen auch wieder Menschen an – ob es in Tschernobyl ist oder in Paterson, New Jersey, zwischen zugewucherten Industrieruinen. Eine „Notbesetzung aus Außenseitern oder Aussteigern, von Menschen am Rande der Gesellschaft“, sieht Flyn dort am Werk.

Diese Räume liefern nämlich die Möglichkeit, sich von der Gesellschaft abzuwenden, notgedrungen oder freiwillig, um die Freiheit zu genießen, die ihnen der Rückzug verspricht. Das sei die andere Bedeutung des Verlassenseins: das Fehlen moralischer Hemmungen.

Die Welt ist heillos, aber sie weiß zu leben

Cal Flyns Beobachtungen sind oft unterfüttert durch genaue Recherchen, biologische und geologische Befunde, eindrucksvolle Daten. Nicht weniger eindrücklich sind aber ihre bildhaften, oft poetischen Beschreibungen dessen, was sie zu sehen bekommt.

Man solle die Anstrengungen, die Natur zu erhalten und das Klima zu retten, nicht vermindern. Aber man dürfe auch die Hoffnung nicht aufgeben, sagt Flyn. Diese Welt sei verdorben und heillos, doch sie wisse zu leben.

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