Indigene Völker haben Jahrhunderte lang den amerikanischen Doppelkontinent beherrscht. Sie haben Hochkulturen geschaffen wie die Azteken in Nordamerika und große Reiche gegründet wie die Inkas in Südamerika.
Dann fielen europäische Kolonisatoren in ihrer Gier nach Reichtümern und Bodenschätzen über sie her, zerstörten ihre Gemeinwesen, versklavten sie, sperrten sie in Reservate oder vernichteten ganze Völkerschaften.
Sie waren sozusagen dem Untergang geweiht und die Europäer zur Übernahme des Kontinents bestimmt. So lautet die weit verbreitete Auffassung von der historischen Entwicklung der beiden Amerikas.
Bemühungen um eine andere Geschichte des amerikanischen Kontinents
Doch seit einiger Zeit bemüht sich eine Gruppe von Historikern, eine andere Geschichte des Kontinents zu schreiben, in deren Fokus die indigenen Völker und ihr 400-jähriger Kampf gegen die Kolonisierung stehen.
Zu ihnen gehört der finnische Professor für Amerikanische Geschichte an der Universität Oxford Pekka Hämäläinen. Seit seiner Studie Das Imperium der Comanchen von 2008 widmet er sich der indianischen Historie in den USA und Kanada und hat sich zu einem mehrfach ausgezeichneten Experten entwickelt. 2022 hat er die Ergebnisse seiner Forschungen in dem umfänglichen Werk „Der indigene Kontinent“ zusammengefasst.
Denn „die hier erzählte Geschichte der überwältigenden und anhaltenden indigenen Macht“ – so schreibt Pekka Hämäläinen – „ist nach wie vor weitgehend unbekannt und ist zugleich der größte blinde Fleck im gemeinsamen Verständnis der nordamerikanischen Vergangenheit.“
Der Autor taucht tief in die Jahrtausende alte Historie Nordamerikas ein, bis hin zum Schöpfungsmythos der ersten indianischen Völker und ihrer Besiedlung des Riesengebiets, das wir als USA und Kanada kennen.
Denn es geht ihm darum, das von der Kulturindustrie deformierte Bild dieser sogenannten Indianer und ihre von Historikern einseitig beschriebene Entstehungsgeschichte durch eine historisch angemessene Version zu konterkarieren.
Indigene Völker haben lange vor den Vereinigten Staaten Nationen gebildet.
Die Navajos, Oglalas oder Shoshonen, die uns früher lediglich als „Stämme“ begegneten, haben lange vor den Vereinigten Staaten bereits Nationen gebildet, große Siedlungen angelegt, eigene Kulturen entwickelt und auch Nachbarvölker bekriegt und unterworfen.
Gegen die Kolonialisten haben sie sich lange behauptet, denn „der enormen Ausbreitung der indigenen Nationen und der Vielfalt ihres Widerstands“ – so Hämäläinen – hatten diese zunächst wenig entgegenzusetzen.
Die indigene Macht erreichte Mitte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Doch dann traten die Vereinigten Staaten mit ihrem imperialen Anspruch auf den Plan. Sie hielten „die Unterwerfung der unabhängigen indigenen Nationen durch den Einsatz ihrer überwältigenden militärischen Macht für leicht zu erledigen“ – so der Autor – ja für notwendig.
Das Ergebnis dieser „genozidalen Kampagne der USA“: Ende des 19. Jahrhunderts gab es nur noch 250.000 Native Americans. Sie reichten jedoch für eine Wiederbelebung in einem zähen Widerstand mit demokratischen Mitteln, so dass in Nordamerika heute wieder zahlreiche indigene Nationen existieren.
Fülle neuer Erkenntnisse über den „indigenen Kontinent“
Auf 650 Seiten breitet Pekka Hämäläinen seine andere Geschichte des indigenen Kontinents in einer Fülle von sorgfältig erforschten Fakten und neuen Erkenntnissen aus. Sie ist spannend zu lesen, ein Standardwerk, das jeder konsultieren muss, der die wahre Historie dieser indigenen Völker kennen will.
Er sollte sich allerdings vom Untertitel des Buchs Eine andere Geschichte Amerikas nicht täuschen lassen. Es geht hier ausschließlich um Nordamerika, wie der Autor das ja auch selbstverständlich benennt, aber das Verlagslektorat verfiel leider dem gängigen, omnipräsenten Sprachgebrauch. Davon abgesehen: unbedingt lesenswert!