Bericht an die oberste Instanz des Holocaust-Gedenkens
Dieser Roman endet mit einem Faustschlag ins Gesicht. Einem Faustschlag, der zugleich am Anfang der Geschichte steht. Denn der Ich-Erzähler des neuen Romans von Yishai Sarid gibt einen erklärenden Bericht über das, was vorgefallen ist.
Adressat ist sein Chef. Der Direktor der israelischen Holocaustgedenkstätte Yad Vashem. Ihn spricht der Erzähler an, als "offiziellen Repräsentanten" der Erinnerung.
Die gemeinsame Erinnerung soll die israelische Identität kitten
Dieses Amt mutet kafkaesk an. Doch die Institution Yad Vashem ist real. Und das Holocaust-Gedenken das zentrale Thema des Romans. Autor Yishai Sarid hat sein Buch in eine israelische Gesellschaft hineingeschrieben, die sich, politisch zerrissen wie nie zuvor, umso mehr auf den Holocaust als zentrales Element der kollektiven Identität stützt.
Was früher ein Tabu war, ist heute allgegenwärtig
Kein Tag, ohne dass der Holocaust nicht in irgendeinem Medium Erwähnung findet. Das war nicht immer so. In den 50er Jahren war der Holocaust geradezu ein Tabu. Die Überlebenden standen für „Schwäche“ und: unter dem Generalverdacht, auf Kosten anderer überlebt zu haben.
Im heutigen Israel hingegen kommen schon Vorschulkinder in den Genuss von Unterrichtseinheiten zu diesem Thema.
Der Ich-Erzähler ahnte die Gefahr, die ihm drohte
Werden regelmäßig Schülerreisen nach Polen in die ehemaligen Konzentrationslager organisiert, bezeichnen sich mittlerweile, so der Historiker Tom Segev, acht von zehn Oberschülern als Holocaustüberlebende, selbst wenn sie aus jüdisch-arabischen Familien stammen.
Eigentlich wollte sich Yishai Sarids Ich-Erzähler genau dem entziehen: „Mir graute vor der modernen Geschichte, die mir wie ein mächtiger tosender und schäumender Wasserfall vorkam“, schreibt er und: „Die Turbulenzen und Katastrophen unseres Volkes wollte ich meiden, erahnte schon zu Beginn des Weges die Gefahr, die mir drohte.“
Holocauststudien sind die einzige Karrierechance für Historiker
Wenn er als Historiker in Israel eine Karrierechance haben möchte, dann müsse er in Holocauststudien promovieren, wird dem namenlos bleibenden Ich-Erzähler bedeutet. Es ist eine geradezu klaustrophobische Situation, aus der es von Anbeginn kein berufliches und persönliches Entrinnen zu geben scheint.
Obwohl ihm davor graust, ergibt er sich. Aus finanziellen Gründen – schließlich muss er seine kleine Familie ernähren - beginnt der Ich-Erzähler zudem, Gruppen durch den Museumskomplex von Yad Vashem in Jerusalem zu führen, und bald schon arbeitet er in den ehemaligen Vernichtungslagern selbst.
Israelische Schülergruppen werden ins Herz der Erinnerung geführt
Als Tourguide in Polen. Vor allem für israelische Schülergruppen. Er befindet sich also, erinnerungstechnisch, im Auge des Sturms.
Yishai Sarids Roman heißt auf Hebräisch: Mifletzet HaSikaron, „Monster der Erinnerung“. Doch wer oder was eigentlich ist hier mit Monster gemeint? Das, was die Erinnerung erinnert? Gar die Erinnerung selbst, oder werden womöglich diejenigen, die da erinnern, selbst zu Monstern?
Der Zwang zum Gedenken offenbart die Risse in der Gesellschaft
Yishai Sarid bringt in seinem Roman drastisch die Risse innerhalb der israelischen Gesellschaft zur Sprache: den Hass zwischen Juden und Arabern, zwischen den aus Europa stammenden Aschkenasen und den orientalischen Mizrachim, zwischen Rechten und Linken.
Es sind Risse, die das Erinnern, so wie es auf der politischen Agenda steht und so wie es praktiziert wird, nicht zu kitten vermag, im Gegenteil.
„Menschen wie die Deutschen können wir schwerlich hassen“
Gleichzeitig scheinen die Opfer in einer zunehmend nationalistischen Erinnerungskultur, die allein auf Stärke setzt, aus dem Blick geraten, während man den eigentlichen Tätern implizit Bewunderung zollt:
Die israelische Holocaustgedenkkultur wird radikal in Frage gestellt
Schüler, deren patriotische Batterien vor dem Militärdienst noch einmal aufgeladen werden sollen, ein Minister, der in Treblinka für Fotografen post, junge Startup-Unternehmer, die ein möglichst realitätsnahes KZ-Computerspiel entwickeln, Regierungsfestakte zum Zwecke von Machtdemonstration.
Yishai Sarids Roman stellt die israelische Holocaustgedenkkultur radikal in Frage. Schonungslos beschreibt er ihren Gebrauch und ihren Missbrauch, der, so sein raffinierter Subtext, für niemanden folgenlos bleibt.
Der verzweifelte Ich-Erzähler verliert zum Ende hin die Fassung
„Monster“ ist geradezu ein Tabubruch. Ein atemberaubend mutiges und ehrliches Buch. Dazu noch brillant geschrieben, mit der Stimme eines scharfsinnigen Erzählers, der in zunehmender Verzweiflung die Fassung verliert.